Die Welt-Baracke in der Provinzstadt

■ Leisnig: 9.000 Einwohner, 2.000 Soldaten, geschlossene Fabriken/ Durchgangslager ist nach dem Überfall wieder aufnahmebereit — und weiter ein unsicherer Ort

Leisnig, die kleine Bergstadt an der Bahnlinie Leipzig—Döbeln, hoch über dem Muldetal, vom Schloß Mildenstein gekrönt, einem Bau aus dem 16. Jahrhundert, wie auch manche der zerfallenen Häuser in den winkligen, feuchten Gassen. Leisnig ist ein langweiliges Nest. Die Teenis lungern um ihre blitzenden Karren herum. Im einzigen Kino, dem Colloseum, läuft Horror oder Porno, Zutritt ab 18. Keine Disko, kein Klub. In Leisnig kam es am 24. Februar zum bisher schwersten Übergriff auf Asylbewerber in der Ex- DDR. Sie kamen nachts aus Johannisthal, mit Zaunlatten, Eisenstangen, betrunken. Das Asylantenwohnheim steht am Rande der Stadt, wo die Chemnitzer Straße, vom Markt kommend, durchs Villenviertel ins Tal führt. Die Angreifer, später wird man im Ort nicht wissen, ob man sie Faschos oder Skins nennen soll, schlugen die Fensterscheiben des Heims ein, schwangen sich in die Zimmer, brüllten „Scheiß Ausländer“, prügelten auf die indischen, vietnamesischen, türkischen Männer ein. Drei vietnamesische Frauen konnten sich ohne Verletzungen retten; ein Türke, ein Inder, ein Afghane wurden schwer verletzt. Von ihren 70 Mark Taschengeld kauften sich die Flüchtlinge dann wieder Fahrkarten, die Flucht ging weiter, nach Schwalbach im Hessischen.

Die Asylbewerber lebten seit Ende Dezemer in diesem Durchgangslager. Selten nur gingen sie hinaus in die Stadt, in die Kaufhalle, gar in die Gaststätte. Ungewohnt nicht nur die Kälte des Winters. „Aber hier im Heim hatten wir ein gutes Verhältnis“, entgegnet Jürgen Behr. Ihn hatte das Landratsamt Döbeln für das Heim „abgestellt“, als Betreuer, zuständig für alles, was das Zusammenleben von elf Menschen im fremden Land verlangt.

„Hier fehlen die Voraussetzungen"

„Kaum hatten wir erfahren, daß die Asylbewerber kommen werden, da waren sie auch schon da. Leisnig hatte im Landkreis als einzige Stadt eine brauchbare Unterkunft.“ Die niedrige Baracke gehörte als „Lager der Erholung und Arbeit“ der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft „Obstproduktion“. Früher schliefen dort die ErntehelferInnen von der Leipziger Uni oder aus Polen. Graubunte Tapete, Doppelstock-Stahlbetten, ein Spind für zwei Personen. Der Betreuer: „Ich habe keine Ausbildung für diese Arbeit, nur einen kurzen Lehrgang. Unsere Küche gibt sich große Mühe. Aber sie ist auf Gemeinschaftskost eingerichtet. Gern hätten sich die Ausländer mal selbst etwas gekocht, nach ihrer Küche. Dafür fehlen hier einfach die Voraussetzungen.“

Ab Montag ist das Durchgangslager Leisnig mit neuer Farbe wieder aufnahmebereit. Ob die AsylbewerberInnen zurückkehren wollen, oder ob neue Flüchtlinge eingewiesen werden, das weiß hier niemand. Platz wäre für 84 AsylbewerberInnen. Ein Betreuer soll dann auch nachts bleiben. Von den sieben Polizisten, die durch Leisnig abwechselnd Streife laufen, bleibt auch in Zukunft nicht viel zu erwarten.

Jürgen Friedrich, parteiloser Ausländerbeauftragter beim Landratsamt Döbeln, hatte die wenigen Tage, die ihm bis zum Eintreffen blieben, genutzt, um die Leisniger auf die neuen MitbewohnerInnen vorzubereiten — „so gut wie möglich“. Interviews für die örtliche Presse, Gespräche mit Schulklassen, auch gemeinsam mit der Kirche. Dennoch muß Jürgen Friedrich jetzt konstatieren: „Die Sicherheit ist auch weiterhin nicht garantiert.“

Hakenkreuze, faschistische Parolen sind auf den Mauern der Stadt nicht zu finden. Die Leisinger sind nicht ausländerfeindlich, das beteuert im Rathaus der Leiter des Sozialamts. „Doch ausgerechnet hier das Lager einzurichten...“

Neben den 9.000 Einwohnern leben hier auch 2.000 sowjetische Soldaten in einer riesigen Kaserne. „Da hat es früher schon öfter Spannungen gegeben. Wir sind um ein gutes Verhältnis mit der Garnison bemüht. Aber hier verschärfen sich rasant die sozialen Probleme.“

Nur ein Leisniger Erzeugnis dürfte im Zuge der Marktwirtschaft Chancen auf dem Markt behalten, die Zigarettensorte F6. Für die zahlreichen Fabriken und Betriebsteile der ehemaligen Mammutkombinate ist die Lage hingegen aussichtslos. Den Teenis auf den Motorrädern vor der Berufsschule scheint staatliche Unterstützung die einzige sichere Perspektive zu sein. Für das Kabinett des Freistaates war der Überfall auf das Durchgangslager und die Situation der Flüchtlinge in Sachsen auf seiner jüngsten Sitzung „kein Thema“. Detlev Krell