: Wir sind Menschenfresser
■ Georg Stefan Troller über seine Liebe zum Realismus und die Psychologie des Dokumentaristen
Es gibt keine selbstzufriedenen, selbstgefälligen Dokumentarfilmer. Der Grund: daß im Gegensatz zum Filmregisseur, zum Spielfilmautor etc. bei uns regelmäßig die Materie stärker ist als wir. Und damit sind wir schon beim Thema, das ich in aller Kürze vorstellen möchte, betitelt: Von der Psychologie des Dokumentaristen. Es ist eigentümlich, aber darüber gibt es kaum Literatur. (Nur der Beruf der Filmcutterin ist noch unbekannter — während sowohl Kameramänner als auch Fotografen ja geradezu als romantische Idole gelten). Also: Wer sind wir? Nämlich wirklich, und nicht im Klischee.
Also erstens: Der Materie verhaftet. Von der Materie abhängig. Von der Realität abhängig. Von dem, was da ist. Man kann nur bringen, was da ist. Man kann es zwar aussuchen, ausleuchten, herausschneiden, aus der Umwelt provozieren, manipulieren..., aber man bleibt dem sichtbaren Aspekt der Dinge verhaftet. Wir sind Realisten. Wir nehmen die Welt für das, was sie ist. Regnet es während der acht Drehtage, die ich im Schnitt für einen Halbstundenfilm brauche, so wird es unvermeidlich ein Regenfilm. Ist die Person, die wir beschreiben, schlecht aufgelegt, vielleicht, weil wir nicht genug Honorar zahlen konnten, so wird es ein mißgelaunter Film. Unsere dauernde Angst, meine berüchtigte Gereiztheit beim Drehen beruhen darauf, daß aus zahllosen Gründen alles bis zuletzt schief gehen kann. Bis zuletzt, d.h. bei uns bis zum Schlußinterview, das wir meist am letzten Abend drehen, wenn wir über unsere Personen schon ziemlich genau Bescheid wissen.
Ist es schlecht, so bleibt häufig auch der Film schlecht. Gelingt es mir nicht, die Dinge aus den Leuten herauszuholen, die in ihnen stecken, und so wie sie herausgebracht zu werden verdienen, dann zeigt sich erst so richtig, wie abhängig wir sind. Trotzdem lieben wir sie, die Realität. Etwas Filmbares zu finden, das zum Thema gehört, ist Erregung, ist Beglückung, ist Bescherung. Gar wenn es sich um Lebewesen handelt. Es geht uns durch die Lappen, sagt der Kameramann, hier anwesend, seinen berüchtigten Satz: Nous avons, vous avez, nu is er weg. So kommt unvermeidlich der Wutanfall. Denn es sind ja die stimmigen Details rund um die zentrale Personenbeschreibung, die dem Film erst die Würze geben. Also: Punkt eins, die äußere Realität: unser Jagdgrund, unser Blumenfeld, unser Schlachtfeld.
Dann zweitens: die innere Realität. Also die eine Person, um die sich bei uns alles drehen wird. Das Herausstellen des menschlichen Gesichts im spontanen Dokument. Das Gesicht des Menschen als Spiegel der Gefühle, in Glück und Unglück, Weisheit und Verbohrtheit, Stolz und Qual. Der Mensch nicht primär als Sprachrohr oder Künder irgendwelcher Meinungen und Ideologien, sondern als Vertreter der Menschheit, mit seinen zeitlosen Fragen nach dem Sinn seines Daseins. Wie lebe ich richtig, mir selbst gemäß? Und häufig: Wie kann ich mich aus dem Schlamassel, aus meinen Begrenzungen, aus meiner Behinderung, aus dem Vorurteil gegen meine Herkunft oder meiner Rasse herausarbeiten? Und ähnliche Fragen, die oft genug im Kern unserer Filme sitzen. Warum will ich das zeigen? Weil es aufregend ist, gewiß, filmisch ergiebig, gewiß. Was noch? Neugier sagt man uns Dokumentaristen nach, ein abgetretenes Wort. Nein, was mich von je motivierte, ist etwas anderes. Nämlich: die Auseinandersetzung mit mir selbst.
Mein Ausgangspunkt war von jeher, Menschen zu finden, mit denen ich mich identifizieren konnte. Ja, die ich im Grunde selber sein wollte. In die ich manchmal versank bis zur Selbstaufgabe. Und nur die wunderbare Anwesenheit des Teams, dieses immer höchst praktisch, irdisch und witzig eingestellten Teams, bringt einen dann, heilsam entzaubert, auf den Boden des Gegenständlichen zurück. Und noch ein wichtiges Wort über das Team: daß es nämlich den Reporter vor allzu direktem Kontakt gegenüber dem Leben abschirmt — ihn davor beschützt, den tausend Verlegenheiten des Drehens, aber oft genug auch dem heulenden Elend, dem er sich gegenüber sieht, ausgeliefert zu sein.
Denn Filmen heißt zwar: Leben nachspüren, heißt aber auch wieder: Leben von sich weisen, sich Unerträgliches vom Leibe halten, Distanz dazu gewinnen. Wer im Slum dreht, wie zum Beispiel wir kürzlich in Haiti, wird, je mehr das Mitleid ihn packt, sich desto mehr distanzieren, sich auf Bilder, Ausschnitte, Technisches konzentrieren, eine der unvermeidlichen, stets zu bekämpfenden Versuchungen dieses Berufes. Zurück zu der darzustellenden Person.
Immer habe ich meine spezifische Aufgabe nicht darin gesehen, die politischen, gesellschaftlichen Fragen und dergleichen darzustellen. Sondern: wie ein einzelner Mensch darauf reagiert. Und diesen reagierenden Menschen habe ich mir danach augesucht, ob er — heute ist mein zynischer Tag — ober er oder sie es bringt. Ob sie die Gefühle ausdrücken, projizieren können, die dem Problem entsprechen, und die es lebendig und unter die Haut gehen machen. Nicht jeder kann's, die meisten können es nicht. Ich kann's auch nicht. Ich würde nie einen Film über micht selbst machen. Diesem Auffinden der richtigen Person, die Gefühle übermitteln oder meinetwegen: sich selbst darstellen kann, gilt bestimmt die Hälfte meiner Zeit und Arbeit. Sie plastisch darzustellen, ja — sagen wir es laut — herauszupräparieren, ist unsere ganze Lust.
Und da wir schon bei der Lust sind, kann ich auch das Wort Liebe nicht vermeiden. Damit der Film richtig satt wird und gedeiht, muß ich mich — auf diese oder jene Art — in die dargestellte Person verlieben dürfen, vorübergehend, nur einen Film lang zumeist (manchmal dauert's auch länger, mein Traum ist, daß es ewig dauert). So ist es. Ob Männlein oder Weiblein, wird dann mit dem Alter zunehmend gleichgültig. Der Dokumentarist will, so wie ich ihn sehe, will sich verlieben dürfen, in ein Volk, ein Land, eine Gruppe, einen Menschen.
In unseren Sendungen haben wir selten an die — letztlich nicht vorstellbaren — Zuschauermillionen gedacht. Das Filmen blieb eine Sache zwischen mir und der dargestellten Person. Mit dem Zuschauer nachher als privilegierter Späher und Mitwisser. Immer stelle ich gerade die Fragen, die mich selbst interessieren, ja, die mich beherrschen: Wie überlebt man, wie lebt man richtig, wie regiert man sein Leben statt es zu erleiden, wie an dieses oder jenes glauben? Immer bringe ich meine Leute in die Situationen, die mich spezifisch angehen. Artikuliere mein persönliches Betroffensein. Subjektives Fernsehen, gewiß — und ich habe nie etwas anderes zu machen gewußt.
Und nun: letzter Punkt. Wir Dokumentaristen sind nicht nur Realitätsfanatiker. Wir sind nicht nur Anteilnehmende, ja, Liebende, wir sind auch Menschenfresser. Unsere Kamera verschlingt die Realität, verleibt sie sich ein, um sie als etwas anderes, Neues wieder auszuspeien. Nämlich als Bild-Ton-Text-Gesamtkunstwerk. Und zwar als unser Werk und unser Besitztum. Denn bei der Bearbeitung, am Schneidetisch, am Schreibtisch des Texters, bei Sprachaufnahme und Mischung, wird aus der Wirklichkeit, die uns zu überwältigen drohte, eiskalt jene Realität zusammengebraut, die wir beherrschen. Das ist der Vorgang, wenn er auch manchmal unter Tränen stattfindet.
Wir, kleine Demiurgen, kleine Künstler minderer Gattungen, verwandeln wie die anderen auch Chaos zu Ordnung, Sinnloses zu Sinnvollem, Äußeres zu Innerem, ja sogar (nur mit Zittern und Zagen sage ich es) Fleisch zu Geist. Jede Kunst ist Kannibalismus, aber unsere vielleicht die gefährlichste, weil sie am lebendigen Material operiert. Manche meiner idealeren Kollegen — Grabe, Wildenhahn, Fechner, werden mir vielleicht widersprechen. Ich bleibe dabei: Wir sind letzten Endes Menschenfresser, die sich vom warmen Blut der anderen, der naiven Lebenden ernähren. Unsere Entschuldigung, unsere einzige Rechtfertigung vor uns selbst: daß wir das Gute wollten. Dokumentaristen sind gute Menschen, wenigstens beruflich. Schon aus der bloßen Zwangslage heraus, daß wir uns sonst nicht in die Augen schauen könnten.
Voyeurismus bleibt es allemal, dieses Ablichten von Menschen, die auf diese oder jene Art verwundet sind, außer sich sind, auf der Kippe stehen, ihre Haut riskieren oder all die tausend Dinge, in die der Dokumentarist sich einmischt. Die er aber nicht ist. Nicht erlebt. Nicht wirklich durchleidet, sondern darstellt. Er muß sich zum Guten bekehren, soll er nicht an dem inneren Widerspruch seines Berufes draufgehen. Der Reporter, der Journalist, kann sich als Augenzeuge für Millionen, als objektiver Tatsachenübermittler oder als Kommentator seine Daseinsberechtiung ablisten. Wir, die wir ins Intime eindringen, in die Gefühle, ins zuckende Fleisch, ohne Priester zu sein oder Heiler, die daraus Sendungen machen, unsere Brötchen damit verdienen und am Ende noch dafür mit Preisen geehrt werden, wir dürfen zuletzt nichts anderes sein als bescheiden, gut, fromm, dankbar, und ein bißchen zynisch.
Ich selbst gehe jetzt zu meiner immensen Verblüffung auf die siebzig zu. Man fragt mich oft, was ich in Zukunft machen will, aber leider fällt mir nichts anderes ein als: bitte noch einen Film. Und dann noch einen. Es ist eben meine Art, mich lebendig zu fühlen.
Die Langfassung der Rede erscheint in 'epd Kirche und Rundfunk‘, Nr. 19
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