Hat die ÖTV schon entschieden?

Bei den Tarifverhandlungen zwischen Staat und ÖTV geht es um mehr als Lohnprozente/ Die Stimmung ist mies/ Den öffentlichen Arbeitgebern laufen die Leute weg/ Die Privaten zahlen besser  ■ Aus Hamburg Florian Marten

Wenn heute in Stuttgart die vierte und voraussichtlich entscheidende Verhandlungsrunde um die Löhne und Gehälter der rund fünf Millionen Menschen im öffentlichen Dienst des alten Bundesgebietes beginnt, wird es in der trauten Zwölferrunde mit sechs Staats- und Gewerkschaftsvertretern nur noch um Bruchteile von Prozenten gehen. Zwar klafft zwischen dem Staatsangebot von 4,1Prozent und der ÖTV-Forderung von zehn Prozent mehr Lohn und Gehalt eine riesige Lücke — insgeheim rechnen aber beide Seiten mit einer Einigung. Die ÖTV jedenfalls richtet sich auf keinen großen Streik ein. Es wird überlegt, ob man nicht vielleicht in die Schlichtung gehen sollte, um das Verhandlungsergebnis bei den Mitgliedern besser verkaufen zu können. Die ÖTV-Vorsitzende Monika Wulf-Mathies dagegen möchte diesen Umweg vermeiden. Angesichts der Armut im Osten, so ihre Argumentation, ließe sich ein verlängertes öffentliches Feilschen politisch schlecht durchstehen.

Wie aus gut unterrichteter Quelle verlautet, hat sich die ÖTV-Spitze auf einen Abschluß um die sechs Prozent eingestellt. Ob die Schmerzgrenze für die Gewerkschaft bereits bei einer Fünf vor dem Komma beginnt, ist ÖTV-intern umstritten. Auf Staatsseite hingegen will sich Verhandlungsführer Schäuble jede Aufstockung seines Angebotes durch Zugeständnisse an anderer Stelle bezahlen lassen. Im Visier hat er dabei vor allem den Paragraph 15 Absatz 7 des Bundesangestellten-Tarifvertrags (BAT), dessen praktische Anwendung die ÖTV in den letzten Jahren mit Tausenden von Klagen und tarifvertraglichen Vereinbarungen durchgesetzt hatte: Der 15,7 des BAT legt fest, daß die Arbeitszeit mit Erreichen bzw. Verlassen der Arbeitsstätte beginnt und endet, das heißt also beim Pförtner und nicht erst am Arbeitsplatz.

In der Praxis ist das heute vielfach anders. In Hamburgs Krankenhäusern wird inzwischen eine einheitliche Zulage von 130 Mark im Monat gezahlt, da angesichts des Pflegekräftenotstandes eine Verkürzung der Schichtzeiten um die geforderten 20 Minuten nicht möglich war. Bei den über 2.000 MitarbeiterInnen der Großforschungsanlage Deutsches Elektronen-Synchroton (DESY) dagegen wurde die Arbeitszeit entsprechend gekürzt. Insgesamt profitieren in Hamburg heute 30.000 Menschen von der Anwendung des 15,7 BAT. Umgesetzt wurde er bislang vor allem in Krankenhäusern und großen Städten.

Schäuble will den 15,7 kippen, ein Ansinnen bei dem die ÖTV schwach werden könnte, da ihre Mitglieder regional recht unterschiedlich davon profitieren. Das zweite denkbare Zugeständnis der ÖTV ist eine Verschiebung der bereits ausverhandelten Strukturreform des Tarifgefüges, von der vor allem ArbeiterInnen im öffentlichen Dienst und Menschen in den Sozial- und Erziehungsberufen profitieren würden. Eigentlich sollte die Reform rückwirkend zum 1.Januar in Kraft treten. Voraussichtlich wird sie aber auf den 1.April verschoben.

Während die ÖTV in der Öffentlichkeit gegen das Klischee ankämpfen muß, nur um die Ausweitung der Pfründe sozial bestens abgesicherter StaatsdienerInnen zu schachern, steht sie intern unter gewaltigem Druck. Die Stimmung im öffentlichen Dienst ist mies wie lange nicht. Sauer ist man auch über den Fehlschlag der letzten Tarifrunde, als man mit erheblichen Lohnzugeständnissen Arbeitszeitverkürzung durchsetzte. Die öffentlichen Arbeitgeber schufen allerdings nur einen Bruchteil der versprochenen neuen Stellen.

Negativ bemerkbar macht sich aber auch der Rückstand in der Einkommensentwicklung im Vergleich zur gewerblichen Wirtschaft. Belegt wird dies auch durch die Unterlagen der öffentlichen Arbeitgeber, die der taz vorliegen: Nach Schäubles Zahlen hat sich die Kaufkraft eines „4-Personen-Arbeitnehmerhaushalts mit mittlerem Einkommen im öffentlichen Dienst“ von 1973 bis 1990 um lediglich 9,2 Prozent erhöht. Das ist — dank des Lohnverzichts in der Tarifrunde 1988 — sogar noch weniger als 1988, wo mit 10,3Prozent Kaufkraftgewinn der beste Wert erreicht worden war. In der gewerblichen Wirtschaft dagegen stieg die Kaufkraft seit 1973 um 33,7 Prozent, also fast viermal so schnell wie im öffentlichen Dienst, wobei die Schere in den letzten Jahren immer weiter auseinanderklaffte. In den Boomregionen, die derzeit einen deutlichen Abbau der Arbeitslosenzahlen erleben, führt dies zu einem teilweise beängstigenden Nachwuchs- und Fachkräftemangel im öffentlichen Dienst. Hamburg klagt über einen erheblichen Mangel an ErzieherInnen und Pflegekräften. Das Hamburger Arbeitsamt wird derzeit von den Krankenkassen „blockweise“ abgefischt, wie sich Klaus Clausnitzer, Chef des größten Arbeitsamtes der Republik, Anfang des Monats vor der Presse beschwerte. Große Probleme haben auch die Finanzämter. Und die Hamburger Müllmänner, bislang die härteste ÖTV-Kampfgruppe der Hansestadt, wollen sogar raus aus dem öffentlichen Dienst. Sie wollten 17 Prozent mehr Lohn und waren nur mit Mühe zu bewegen, für die „lächerlichen zehn Prozent“ auf die Straße zu gehen. „Wenn ein Abschluß von nur sechs Prozent rauskommt“, so einer der Personalräte zur taz, „stell' ich mich nicht freiwillig in die Kantine und erzähl' denen das.“