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URLAUB OHNE REISEN

■ Eine "denkwürdige Veranstaltung" der AG "Tourismus mit Einsicht"

Eine „denkwürdige Veranstaltung“ der AG „Tourismus mit Einsicht“

VONCHRISTELBURGHOFF

Auf der ITB eine Fachbesucher-Veranstaltung über den Reiseverzicht anzusetzen, ist alles andere als opportun, und entsprechend bescheiden war das Interesse. So entging der Masse der Messebesucher Martin Lohmanns heitere Farce über Zehn Jahre Erforschung des chronischen Tourismus. Martin Lohman, Psychologe und Mitarbeiter des Studienkreises für Tourismus, der alljährlich das Reiseverhalten der Deutschen untersucht, sprach aus, was viele insgeheim befürchten: daß das Reisen etwas Zwanghaftes an sich hat. Wie sein fiktives „Nordisches Institut für Therapieforschung, ,Schnarup-Thumpy‘“ ermittelte (und wie es die realen Erhebungen des Studienkreises bestätigen), machen immer mehr Menschen immer häufiger immer weitere Urlaubsreisen in immer kürzeren Abständen. Der 'Spiegel‘ bezeichnete den Bewegungsdrang der Deutschen letztes Jahr als „mobilen Wahnsinn“; die Psychologie kam zur Diagnose „Reisesucht“, ein Krankheitsbild, das alle Kennzeichen eines „übermäßigen Verlangens nach der Fortsetzung des Drogengebrauchs — ohne Rücksicht auf Verluste — und der Tendenz zur Dosissteigerung“ aufweist (vgl. die Suchtdefinition der WHO).

Das Reisen als Droge: Der Vergleich ist nicht neu, seit vor 30 Jahren Hans Magnus Enzensberger den Tourismus als „Flucht aus dem Alltag“ analysierte. Inzwischen scheint die Realität den Vordenker längst überholt zu haben. Ein Gang durch die Messehallen macht sinnfällig deutlich, wie exzessiv der Tourismus boomt und das Geschäft der „Dealer“ blüht, wie die Märkte aufgeteilt sind und wie das Produkt für den arglosen Abnehmer fortlaufend modernisiert wird. Der Messebesucher sieht sich mit einem komprimierten Heile-Welt-Mythos konfrontiert, der im schnellen Konsum gelackter Erlebniswelten alles Glück der Welt verspricht. Buchen ist alles. Im schützenden Saal des Congress Centrums dagegen präsentierte Martin Lohmann die schauderhafte Kehrseite der Reisesucht, die dann eintritt, wenn die „heavy user“ nach langen Jahren des Drogenmißbrauchs vom Leidensdruck überfallen werden und sich der Qual des Entzugs stellen. Erschreckend die Aussicht, daß im Jahre 2001 die „Inzidenzrate“ für den „chronischen Tourismus“ bereits bei 78 liegen soll und daß davon überrepräsentativ reiseerfahrene Personen ab dem 35. Lebensjahr vom „Typ in ferne Länder mit Rucksack“ und vom „Typ will sich um nix kümmern“ resp. Pauschaltourist betroffen sind. Als ZuhörerIn spielt man unwillkürlich die Ausstiegsalternative durch: entweder den Dealern schleunigst das Handwerk zu legen oder sich ganz schnell für die Ausbildung sehr vieler Therapeuten starkzumachen. Oder liegt die Lösung des Problems vielleicht doch im Reiseverzicht, wie der Vortragende seinem Auditorium einreden wollte?

Martin Lohmanns Pathologisierung des Tourismus bewegte sich — von der erheiternden Seite einmal abgesehen — auf gleicher Linie mit Dieter Kramers Diffamierungsstrategie. Der Frankfurter Kulturwissenschaftler und Naturfreund verglich auf derselben Veranstaltung den Tourismus schlichtweg mit „Müll“. Sein Ausstiegskonzept besteht erstens im „Vermeiden“ desselben und zweitens im „richtigen Umgang mit dem Rest“.

Als Provokation, die das ausbordernde Reiseverhalten in Frage stellt, erfüllen die Thesen beider Wissenschaftler sicherlich ihren Zweck. Unverständlich dagegen ist ihre Verquickung einer Kritik am Tourismus mit der Diffamierung individuellen Reiseverhaltens. Auch wenn es den Anschein erweckt: es reist beileibe nicht jeder andauernd durch die Welt. Die Erhebungen des Studienkreises weisen regelmäßig einen erheblichen Prozentsatz von „Nichtreisenden“ aus, hinter dem sich in erster Linie sozial schwache Gruppen, Alte, Kranke und Behinderte verbergen. Denen ist und bleibt die Freiheit zu reisen weitgehend versagt. Noch vor nicht allzu langer Zeit war den DDR-Bürgern der Weg in den Westen versperrt; seit die Grenzen offen sind, übertrifft die Reiseaktivität der Ostler bei weitem die der alten Bundesdeutschen. Wer wollte es ihnen vergönnen? Ihr „abnormales“ Reiseverhalten scheint doch vielmehr eine Folge der früheren Zwänge und nicht einer garantierten Bewegungsfreiheit zu sein.

Die beiden Fachleute hingegen gehören einer mobilen Elite von Tourismusprofis an, die allein aus beruflichen Gründen „immer häufiger immer weiter in immer kürzeren Abständen“ unterwegs ist. Sollte es sein, daß sie ihre eigenen Reisezwänge langsam satt haben oder daß sie sich zunehmend behindert fühlen durch die zahllosen Staus auf Autobahnen, durch Flug- und Zugverspätungen, die der „mobile Wahnsinn“ der Massen verursacht hat? Ohne weiter über die Hintergründe der Wissenschaftlerempfehlungen zum Reiseverzicht spekulieren zu wollen, so bewegt mich doch die Frage, ob ihr Engagement vielleicht als Signal zur Abschaffung des Tagungstourismus zu verstehen ist? Wie Dieter Kramer sagte: Zuerst muß es ums Vermeiden gehen...Falls Lohmann, Kramer und andere Fachleute künftig nicht mehr zu Veranstaltungen auftauchen, sind sie sicher auf Entzug.

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