Ramstein: "Pilotenfehler" begraben?

■ Immer mehr Zweifel entstehen an der offiziellen Version über den Absturz der "Frecce tricolore" 1988, bei dem 70 Menschen starben und 400 verletzt wurden. Während Deutschlands Politiker in Deckung...

Staatsanwalt Norbert Dexheimer aus Zweibrücken hat in den letzten Wochen ein Gerät hassen gelernt, das ihm sonst nur selten Beschwerden bereitet: das Telefon. Nahezu ständig klingelte es, am anderen Ende meist Journalisten, die von ihm wissen wollten, wie weit er denn „nun in seinen Ermittlungen wegen der Sabotage beim Flugtag in Ramstein 1988“ sei.

Dexheimers Ärger über die Dauerfragerei ist verständlich: Er kann nämlich noch gar nicht ermitteln. Seit dem ersten Bericht der taz am 25. Januar 1991 verdichten sich immer mehr Anhaltspunkte, die die bisher gehandelte offizielle Version eines Pilotenfehlers beim Zusammenstoß der italienischen Kunstflugstaffel „Frecce tricolore“ (insgesamt 70 Tote, 400 Verletzte) in Frage stellen. Seit sich nicht nur herausgestellt hat, daß zwei der drei abgestürzten Piloten wichtige Zeugen bei den Ermittlungen über den mutmaßlichen Abschuß einer DC-9-Linienmaschine (81 Tote) über der Mittelmeerinsel Ustica während eines Nato-Manövers im Juni 1980 waren und daß bereits ein halbes Dutzend anderer Zeugen auf mysteriöse Weise zu Tode gekommen sind, hat eine intensive Neubewertung des Ramsteiner Desasters begonnen. Gefördert werden Spekulationen zusätzlich durch die Tatsache, daß Italien den deutschen Behörden keinerlei strafrechtliche Würdigung des Absturzes übergeben hat und sogar den technischen Report ihrer Militärexperten streng geheimzuhalten versucht.

Doch dem deutschen Staatsanwalt sind derzeit noch die Hände gebunden: Nach dem Nato-Statut konnte Italien die Ermittlungen für die Unfallursache völlig an sich ziehen (Ramstein ist US-Basis, die Flieger gehörten der italienischen Luftwaffe an: Das deutsche Verteidigungsministerium durfte in einer trilateralen Kommission lediglich die Rettungsmaßnahmen, die für Ramstein zuständigen Amerikaner hingegen die Frage der Airbase-Sicherheit untersuchen. Obwohl Staatsanwalt Dexheimer seit den ersten taz-Artikeln den schon bei der Abgabe des Falles erbetenen Schlußbericht der italienischen Strafverfolgungsbehörden dringend angemahnt hat, hat sich bisher nichts gerührt. Dexheimer könnte aber erst dann ein eigenes Verfahren eröffnen, wenn die Italiener diesen Bericht offiziell verweigern oder zu einem Ergebnis kommen, das den deutschen Ermittlern nicht hinreichend vertieft oder fragwürdig erscheint.

Italienischer Part des Untersuchungsberichts blieb Verschlußsache

Inzwischen kommen freilich auch in Italien selbst Zweifel daran auf, ob dort seitens der Strafbehörden jemals ein regelrechter, für eine Verfahrenseröffnung oder -einstellung ausreichender Schlußbericht erarbeitet wurde. Unbeschieden ist jedenfalls bis heute eine entsprechende Anforderung durch den mit der Aufhellung ungeklärter Attentate beschäftigten Untersuchungsausschuß des italienischen Parlaments. Der hat sich mittlerweile ebenfalls für die Sache zu interessieren begonnen. Fest steht nur, daß es den Report der trilateralen Militärkommission gibt — der jedoch nur nach dem Nato-Standardisierungabkommen STANAG 353 durchgeführt wurde, das ausdrücklich keinerlei strafrechtliche Würdigung vorsieht, sondern nur dazu dient, „die für den Flugunfall festgestellten Ursachen für die Zukunft auszuschließen“.

Der militärische Bericht lag auch dem Untersuchungsausschuß des rheinland-pfälzischen Landtages in Sachen Ramstein vor — und der gab sich ebenfalls damit zufrieden, daß als Unfallursache eben Fehler des Solisten der „Frecce tricolore“, Iva Nutarelli, festgestellt wurden. Eine Reihe naheliegender Fragen kam den Volksvertretern offenbar gar nicht in den Sinn — so etwa die, warum zwar der deutsche und der amerikanische Teil des Rapports (unterzeichnet von Brigadegeneral H.J. Griese und Colonel Robert S. Pahl von der US-Air- Force) öffentlich zugänglich ist — nicht aber der italienische Part (unterzeichnet von Luftwaffengeneral Oliviero), eben jener, der die Unfallursache detailliert klären sollte. Einem Mitarbeiter des Bonner Verteidigungsausschusses, zur Sache befragt, rutschte der drollige Satz heraus, der Bericht sei „ja bewußt als Verschlußsache deklariert, damit die Öffentlichkeit nichts davon erfährt“.

Der taz liegen inzwischen dennoch die Ergebnisse der italienischen Kommission vor. Ein Opus, bei dem auch schon ein Laie erkennt, welche Oberflächlichkeiten und Widersprüche es enthält (so geraten bei der Beschreibung des Fluges ständig Beschleunigungs- und Verzögerungsmanöver, Verspätungen und Verfrühungen durcheinander); vielleicht erklärt dies zum Teil, warum das Werk nicht gerne vorgezeigt wird. Doch sicher ist es nicht der einzige Grund. Liest man den Report genau durch, erkennt man, daß — unabhängig von der Frage der Sabotage — die Version des Pilotenfehlers wohl die unwahrscheinlichste aller Erklärungen für den Zusammenstoß ist.

Nach der Darstellung der italienischen Militärtechniker müßte der Solist nicht einen, sondern ein halbes Dutzend schwerer Fehler gemacht haben — und dies nach mehr als 4.300 Flugstunden (Nutarelli war einer der erfahrensten Piloten Italiens), sieben Jahren Dienst bei den „Frecce tricolori“ und mehr als 80 problemlosen Ausführungen der in Ramstein dann tödlichen Flugfigur des „Überkreuzloopings“. So beschleunigte Nutarelli bei seinem Solo-Looping über Gebühr und stieg fast 200 Meter zu hoch auf, in eine Höhe von 1.600 statt der vorgesehenen 1.400 Meter, wo die anderen ihren gerollten Loop ausführten. Oben angekommen, soll er bemerkt haben, daß er zu hoch lag und durch abrupte Kontrapression die Kreisbahn abgekürzt haben, also in einen steileren als den normalen Sturzflug übergegangen sein. Das aber tat er — zweiter Fehler — zu massiv und — dritter Fehler — zu lange. So lag er nun beim Abschluß des Loopings während des Überganges in den bodennahen Horizontalflug (der ihm erst wieder die Sicht auf die Kollegen erlaubte) zu nahe am Begegnungspunkt mit den von beiden Seiten zum Überkreuzflug herannahenden Kollegen — weshalb er erst zu spät bemerkte, daß er nun zu früh ankam, die anderen Flugzeuge erst zum Kreuzen ansetzten und nicht schon wie vorgesehen, damit fertig waren. Außerdem lag er — vierter Fehler — um gute zwanzig Meter zu tief, bei ca. 35 bis 40 Meter Bodenhöhe, und damit deutlich unter dem Niveau der unteren der beiden anderen Staffeln. Um die Verfrühung zu kompensieren, zog er nun eine Art Notbremse: Er fuhr die Räder und die Landeklappen aus; eine fünfte Fehlkalkulation, weil dies voraussehbar nicht reichen würde (es dauert einige Sekunden, bevor dieses Manöver greift, doch er war schon auf eine Sekunde an den Begegnungspunkt heran). Und nun machte er den sechsten, den verhängnisvollsten aller Fehler: Statt unter der zweiten, kreuzenden Staffel durchzufliegen, zog er die Maschine in der letzten Sekunde hoch und nur deshalb rammte er das seitlich fliegende Flugzeug, was dann auch noch die Havarie mit der danebenfliegenden Maschine seines Staffelkapitäns Naldini provozierte.

Der Pilot „mit Blackout“ reagiert schnell und völlig bewußt

Obwohl hier eine geradezu unvorstellbare, für einen derart erfahrenen Piloten ganz und gar ungewöhnliche Fehlerhäufung unterstellt wird, läßt sich gleichwohl eine der Hauptmutmaßungen ausschließen, die viele Beobachter unmittelbar nach dem Unfall bevorzugt hatten: daß der Pilot entweder einen Blackout gehabt oder einen Schwächeanfall erlitten habe. Alle Manöver, die er ausführte, waren bewußte Gegenmaßnahmen auf die jeweils entstandene Situationen, und er leitete sie in Bruchteilen von Sekunden korrekt ein. Auch die im italienischen Report wieder eingebrachte These einer kurzzeitigen Blutleere im Gehirn aufgrund der Beschleunigung nach dem Sturzflug („Faktor G“) ist damit ausgeschlossen. So hat Nutarelli die Notbremse zum Beispiel genau in dem Augenblick gezogen, als er seine Kollegen wieder ins Gesichtsfeld bekam — das war aber auch genau jener Moment, an dem die Beschleunigung eigentlich am stärksten sein mußte, die Blutleere also am wahrscheinlichsten wäre.

Die Überlegungen, mit denen mittlerweile auch solche italienische Flugexperten an eine Neubewertung des Falles herangehen, ranken sich daher um andere Fragen: Warum etwa raste Nutarelli in eine Höhe, die so weit über der vorgesehenen lag — und warum führten alle seine Maßnahmen, die Verspätung korrekt auszugleichen, nicht zum notwendigen Erfolg? Daß er nach dem Steilsturz um zwanzig Meter zu tief lag, ließ sich möglicherweise nicht vermeiden, da kann ein winziges Luftloch eine Rolle spielen — doch warum zog er, wo er leicht unter den anderen hätte durchfliegen können, plötzlich unvermittelt wieder hoch? Die Flugrevue „Aeronautica & Difesa“ glaubte schon bei der ersten Rekonstruktion der Flugbahn möglicherweise „einen momentanen Zweifel“ zu erkennen, so als ob der Pilot nicht genau wisse, ob er unten durchkomme. Der Militärbericht vermutet, Nutarelli habe aufragende Gebäude oder Bäume gefürchtet und deshalb hochzogen.

Wurde Nutarellis Maschine zum „Stottern“ gebracht?

Tatsächlich gibt es, soweit sind mittlerweile auch die entschiedensten Verfechter eines „Pilotenfehlers einverstanden, zumindest zwei Alternativen, die eine zwanglosere Erklärung des gesamten Vorgangs zulassen: Entweder Nutarelli hatte keine Möglichkeit, sich jeweils über die tatsächliche Bodenhöhe seines Fluges zu versichern, d.h. daß sein Höhenmesser ausgefallen war; das würde seinen zu hohen Anstieg ebenso erklären wie seine Unsicherheit, ob er unter der querfliegenden Staffel durchkönne. Doch die meisten Kunstflieger versichern, daß sie solche Figuren sowieso meist ohne Höhenmesser ausführen, rein nach Sicht (in der Tat sind die Figuren oft in nur wenigen Sekunden auszuführen, der Blick auf Geräte daher kaum möglich). Ob Nutarellis Maschine ein Gerät besaß, das vor zu geringer Bodenhöhe warnt, geht aus dem Bericht nicht hervor.

Oder aber, und das scheint die wahrscheinlichere Deutung: Nutarellis Aeromacchi MB 339 hatte, aus welchem Grund auch immer, Schwierigkeiten mit der Beschleunigung, daß, im Autofahrerjargon gesprochen, die Maschine stottert. Das würde zur Konsequenz haben, daß der Pilot, um Höhe zu erreichen, stärker anzieht als sonst — doch wenn die Düse dann wieder normal einsetzt, katapultiert ihn das in eine größere Höhe. Gleichzeitig würde derselbe Effekt bei der Abkürzung des Loopings, wie Nutarelli ihn versuchte, eine gewisse Unsteuerbarkeit bedingen, was sowohl die zu starke Deformation der Looping- Bahn erklären würde wie das zu tiefe Einfliegen in die Horizontale. Und schließlich wäre damit auch verständlich, warum ihm das Manöver des Hochziehens nicht hinreichend gelungen ist, obwohl nach Ansicht aller Experten die eineinhalb Sekunden, in denen er dies versuchte, eigentlich hätten reichen müssen. Die Militärkommision muß für das Nichtgelingen dieses letzten Manövers einen abträglichen Wind unterstellen — von dessen Existenz jedoch die meteorologischen Aufzeichnungen keine Spur zeigen.

Damit ist freilich zunächst einmal nur wahrscheinlich geworden, daß es sich bei dem Unfall um keinen Pilotenfehler handelt (was allerdings versicherungs- und entschädigungsrechtlich bereits Konsequenzen haben kann). Doch auch in der Frage, ob Manipulation im Spiel gewesen sei, gibt es neue Erkenntnisse.

„Warnung“ mit unbeabsichtigten Folgen für den Mann aus Palermo

Die italienische Militärkommision erklärt, daß „alle Piloten in ausgezeichnetem psycho-physischem Zustand waren“. Das stimmt zumindest für zwei der Piloten nicht — und zwar ausgerechnet für die beiden, die auch in Ustica dabei waren, dem Solisten Nutarelli und dem Geschwaderchef Naldini, und die beide im Ramstein ums Leben kamen. Polizisten und Ermittler erinnern sich — auch die Presse berichtete darüber —, daß noch Wochen nach dem Unglück unter den Ursachen für eine mögliche momentane Konzentrationsschwäche des Solisten dessen mächtiger Ärger über die Beförderung seines Kollegen Naldini zum Geschwaderchef im Vordergrund stand: eine Beförderung, die eigentlich Nutarelli aufgrund seiner größeren Flugerfahrung und seines unbestrittenen Solistenkönnens für sich beansprucht hatte. Noch kurz vor Ramstein soll er seiner Wut freien Lauf gelassen und dunkle Andeutungen über eine ihm nun bald mögliche Rache am Militär von sich gegeben haben. Da Nutarelli und Naldindi unmittelbar zuvor von der Entdeckung der Fluglisten von Ustica erfahren hatten, könnte es durchaus sein, daß der Solist sich damit auf sein Wissen um das damalige Nato-Manöver bezogen hat; doch selbst wenn er das nicht im Sinne hatte, mußten solche Sprüche bei jenen höchste Alarmstufe auslösen, die jahrelang alles getan hatten, um die Wahrheit über den DC-9-Abschuß zu vertuschen, Fälschung, Betrug und Mord eingeschlossen.

Das heißt nicht, daß ihn wirklich jemand über Ramstein abstürzen lassen wollte (wir wiederholen das, weil speziell die deutsche Presse hier die taz-Recherchen allzusehr verkürzt wiedergegeben hat). Doch könnte sich die Deutung eines Kunstfliegers bewahrheiten, den die taz zitiert hatte: danach könnte man Nutarelli möglicherweise durch eine leichte — bei dieser Flugfigur dann jedoch unbeabsichtigt fatale — Manipulation vor Aussagen in Sachen Ustica haben „warnen“ wollen. (Daß Nutarelli eine solche „Warnung“ verstanden hätte, darf als sicher angenommen werden — er stammte aus Palermo, wo derlei „avvertimenti“ das klassische Mittel sind, jemanden von einer Handlung abzuhalten.)

Staatsanwalt Dexheimer wird noch einige Zeit warten müssen, bis er der Sache auf den Grund gehen kann. Doch möglicherweise wird ihm ein anderer die Arbeit abnehmen: Mittlerweile ist der für Ustica zuständige Chefermittler Rorio Priore emsig damit beschäftigt, Einzelheiten aufzuklären. Vergangenen Freitag hat er den taz-Korrespondenten in Rom vorgeladen und ihn aufgrund des minutiös übersetzten Artikels vom 25. Januar eineinhalb Stunden über die Erkenntnisse bezüglich der „Frecce tricolore“ vernommen. Mit der abschließenden Maßgabe, daß er künftig alle diesbezüglichen taz-Artikel „sofort auf dem Tisch“ haben möchte.