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ESSAYSchmutziger Krieg in Realzeit

■ Eine Zukunftsvision nach dem Golfkrieg

Ich erinnere mich an den Spanien- Krieg, Flüchtlingskinder im Süden Frankreichs, mit denen ich in die Schule ging. Es war ein Versuchskrieg, in dem jeder seine blankgeputzten neuen Waffen und Vernichtungsstrategien ausprobierte. Ein lokaler Konflikt, der als Vorspiel zum Weltkrieg in meiner Kinderzeit diente. In den Illustrierten zeigten die Comics seltsame Raketen, die die Städte überflogen, um sie zu zerstören. Guy l'Eclair bereitete uns so auf den Blitzkrieg vor.

Heute haben die Videospiele die Comics ersetzt, der F-15-Pilot ist der Nachfolger von Luc Bradefer, aber es ist dieselbe Geschichte: ein experimenteller Krieg, der die Öffentlichkeit auf größere Schrecken einstimmt. Über einen Monat lang schuf die Umwandlung des Fernsehschirms zum Video-Zielbild Gewöhnung an die gefährlichen Spiele.

Im übrigen kann man an der Länge der Schlangen, die man jeden Morgen vor bestimmten auf Wargames spezialisierten Geschäften sehen kann, den Einfluß dieses Konflikts auf die Mentalitäten ermessen. Ob Militarist oder Pazifist — niemand kann sich mehr dieser „Augendroge“ entziehen, in der sich virtuelle und aktuelle Realität unentwirrbar überblenden.

Das Problem ist heute nicht mehr: „Wie sehe ich die Welt?“, sondern vor allem: „Wie sehe ich den Schrecken?“ Flugsimulator heute, Kriegssimulator gestern: Wann werden die echten Informationen über die Fakten und die virtuellen der Computerprogramme fürs große Publikum zusammengeschaltet? Denn — so lehren es uns die Freunde der Videostrategie — aus einem Wargame erfährt man heute mehr über einen Konflikt als aus der Presse. Angesichts dieser Situation ist das englische Sprichwort „Wait and see“ überholt. Heute sieht man nur noch, ohne zu warten, so schnell es geht, egal was, egal wann, egal wo. So wie die Frontsoldaten, die sich in den Kampfpausen — wie berichtet wird — mit Videospielen auf diese Trugbilder trainierten.

„Wir nehmen es den Amerikanern nicht übel, daß sie den Krieg gewonnen haben, aber wir vrzeihen ihnen nicht, daß sie ein Experiment mit uns gemacht haben“, sagten mir neulich auf einer Reise japanische Freunde. Sieg oder Niederlage in einem Konflikt — das ist eine Sache für ein Volk; sich als Meerschweinchen- Population, als Versuchsratten wiederzufinden, ist eine andere. Der Spanien-Krieg als Vorbereitung des Zweiten Weltkriegs und die Atombombe, um diesen Krieg zu beenden: zwei experimentelle Augenblicke in der Geschichte der Kriege, die viel zur Steigerung der Vernichtungskraft beigetragen haben — einerseits mit systematischem Einsatz der Luftwaffe gegen wehrlose Bevölkerungen (Guernica vor Rotterdam oder Coventry), andererseits mit den ersten Atomwaffen gegen Hiroshima und Nagasaki.

Die Fortsetzung ist bekannt: ein Rüstungswettlauf, der fast ein halbes Jahrhundert gedauert hat, der Aufstieg eines militärisch-industriellen Komplexes, der die Wirtschaft ganzer Nationen an den Rand des Ruins führte und zur Überrüstung gewisser Länder führte, wie heute im Irak. Der Kreis hat sich geschlossen — vom wilden Experiment des Spanienkriegs zu dem des Golfkriegs. Dies war ein überaus bedeutender Konflikt, weniger wegen seiner geopolitischen Ausdehnung als wegen seiner technischen und logistischen Dimensionen. Der UNO-Irak-Krieg erscheint bereits als Vorwort, als Opernouvertüre für einen ökologischen Krieg, der von den Strategen längst hypothetisch vorausgenommen wurde und den Begriff des „totalen Kriegs“ in ein neues Licht stellt.

Hinter dieser Eskalation des elektronischen Kriegs im Nahen Osten tut sich die Perspektive eines Kampfs auf, in dem es weit mehr um die Zerstörung der Umwelt des Feindes gehen wird als um die Kontrolle über seine kriegszerstörten Territorien. Und dies gilt, halten wir es fest, für beide Lager in dieser Wüstenregion. Nach der Ölpest, der willkürlichen Verschmutzung des Persischen Golfs, erfuhr man von den fast fünfhundert in Brand gesetzten Öllagern und daß die Verschmutzung der Atmosphäre sich nun schon auf 40.000 Quadratkilometer erstreckt.

Eine Zukunftsvision: Wenn dieser Konflikt längst vergessen sein wird, werden wir noch Frontnachrichten bekommen. Um etwas über den Zustand der Kriegsorte zu hören, werden wir nicht mehr die CNN-Live-Nachrichten einschalten, sondern den Wetterbericht. Tag für Tag, Monat für Monat wird der Wettersatellit Meteosat uns über Kuweit, dem Irak und Saudi-Arabien den schmutzigen Krieg in Realzeit zeigen, die Vorschau auf den „nuklearen Winter“, in Lebendgröße, so wie ihn uns die Analytiker der famosen „Folgeschäden“ vorausgesagt haben. Paul Virilio

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