Der Wind hat sich gedreht

■ »Antarktis — Himmel und Hölle zugleich« — Ein Lichtbild-Vortrag von Reinhold Messner im ICC

Das Sympathische an Reinhold Messner ist, daß er selbst am besten weiß, wie sinnlos seine Expeditionen sind. Den Erkenntniswert seiner Antarktis-Tour faßt er in einen Satz: »Mensch und Antarktis sind füreinander nicht geschaffen.« Wer hätte je daran gezweifelt? Wäre Messner vor hundert Jahren aufgebrochen, es wäre ihm mit Sicherheit gelungen, die Fahne Tirols in den Südpol zu rammen. Heute ist der Südpol eine amerikanische Festung, deren Unterhalt jeden Tag eine Million Dollar kostet und deren Besatzung angewiesen ist, keinem Fremden Zutritt zu gewähren. Ein Abenteurer hat dort nichts verloren. Er kann froh sein, wenn man ihm eine Tasse Tee anbietet.

Messner hat keine Mission. Die Forschung erledigen die Forscher und für die Ökologie ist Greenpeace zuständig. Er hat die Antarktis durchquert, ohne dort eine einzige Verpackung zu hinterlassen. Das ist schön. Daß die Antarktis langsam zur Müllhalde wird, dafür sorgen andere. Der ökologische Abenteurer ist ein Anachronismus.

Und dennoch hört man ihm atemlos zu, wenn er erzählt. Es ist vollkommen egal, ob die Dias mit Überblendungen lügen oder künstlich auf Breitwandformat gezerrt sind. Auch die grausame Sphärenmusik in den Redepausen hört man irgendwann nicht mehr. Zweieinhalb Stunden dauert Messners Vortrag, zweieinhalb Stunden gibt es kein Entrinnen.

Kaum ist das Licht im Saal ausgeschaltet, schlagen uns vierzig Grad Minus ins Gesicht und der Proviantschlitten zerrt an unseren Schultern. Die ersten Tage sind eine Tortur, die Blasen an den Füßen machen jeden Schritt zur Qual. Abends kriechen wir in unser Zelt, kochen mit geschmolzenem Eis und einer Scheibe Tiroler Bauernspeck unser Süppchen und glauben an kein Gelingen. Die Stimmung ist nicht gut. Wir schaffen nur zwanzig Kilometer am Tag, dreißig müßten es mindestens sein. Wenn wir unser Ziel nicht erreichen, bevor der antarktische Winter kommt, sind wir verloren. Wir laufen mit dem Kompaß voran, unser Kompagnon Arved Fuchs bildet die Nachhut. Jeden Abend mißt er den genauen Standort. An die Kälte gewöhnen wir uns langsam, aber der antarktische Nebel, das Whiteout, macht uns zu schaffen. Wenn wir den Horizont nicht sehen, wissen wir nicht, ob wir vorankommen. Unser Funkgerät arbeitet nicht mehr, wir sind jetzt ganz auf uns selbst angewiesen. Wenn unsere Rechnungen stimmen, müßten wir in zwei Tagen am Südpol sein. Da ... plötzlich ... die Kuppel ... der Südpol ... wir haben es geschafft. Der 'Spiegel‘-Reporter ist auch schon da. Es geht uns gut, aber wir dürfen jetzt nicht euphorisch werden. Der schwierigste Teil der Strecke liegt noch vor uns. Wir machen fünfzehn Minuten Pause und fahren mit der Rolltreppe zum Büchertisch. Es ist unglaublich, wie viele Menschen uns dort erwarten. Alle tragen unser Buch Die Freiheit... in den Händen und wünschen ein Autogramm. Wir schaffen es nicht, alle diese Menschen glücklich zu machen. Die Zeit drängt, wir müssen aufbrechen. Wenn der Wind günstig ist, können wir jetzt ein paar Tage segeln, aber wir dürfen uns auf keinen Fall auf den Wind verlassen. Bitte, wir haben es ja geahnt. Der Wind hat gedreht! Die Segel sind jetzt sinnlos, wir kommen nur noch schleppend voran. Wenn wir den Proviant nicht rationieren, werden wir in den letzten Tagen hungern müssen. Mangelerscheinungen haben wir nicht, aber ziemlich an Gewicht verloren. Die Fettschicht unserer Haut ist aufgezehrt, die Kälte schneidet direkt in die Muskeln. Wir befinden uns jetzt ganz in der Nähe jener Stelle, wo Scott und seine Männer dem Kältetod erlegen sind. Vielleicht wird uns ein ähnliches Schicksal ereilen. Wir wissen es nicht. Nein, wir haben Glück. Der Wind scheint wieder zu drehen. Wir brauchen dringend klare Sicht. Jetzt kommt der gefährlichste Teil unserer Strecke: das antarktische Hochgebirge. Mit Skiern ist hier nichts zu machen. Wir müssen die Steigeisen anlegen. Das Wandern mit den schweren Eisen geht unglaublich auf die Kniegelenke. Aber die Schmerzen sind nicht das schlimmste. Das schlimmste ist die Angst. Wir werden ungefähr sechstausend Gletscherspalten überqueren müssen. Jede könnte zur Todesfalle werden. Wenn die Schneewehen in den Spalten das Gewicht der Schlitten nicht halten, werden wir unweigerlich in die Tiefe gerissen. Niemand könnte uns befreien. Wir dürfen nicht daran denken, wir müssen vorwärts. Schließlich haben wir das Hochplateau überwunden. Es ist fast ein Wunder. Vor uns liegt jetzt eine unendliche, weiße Fläche. Wir können die Skier wieder anschallen. Jetzt heißt es einfach: einfach nur laufen, jeder nach seiner Kraft. Der Horizont wippt bei jedem Schritt. Wir nehmen die Träume mit in den Tag. Die Menschen, die in unserem Leben wichtig waren, sind uns plötzlich ganz nah. Unser Denken ist von großer Klarheit. Zeit ist eine irrationale Größe. Irgendwann taucht in der Ferne eine majestätische Bergkette auf. Dahinter muß das Meer liegen. Jetzt erst wissen wir: Wir haben es geschafft. Unsere Gedanken sind noch einmal bei Shackleton, dem Pionier der Antarktis-Durchquerung, bei Scott, der nur achtzehn Kilometer vor dem nächsten Depot aufgeben mußte.

Plötzlich wird es hell. Die Antarktis ist verschwunden und vor uns steht ein Yeti. Sein bärtiges Gesicht ist von festen, braunen Locken umkränzt. Er spricht vom Kühlschrank des Weltklimas, den wir nicht unter den Hammer kommen lassen dürfen. Ist in Ordnung, machen wir nicht. Wir versprechen auch, dort keine Bananen herumzuschmeißen, bloß um nach hundert Jahren mal nachzuschauen, ob die immer noch nicht verrottet sind. Wir werden überhaupt nie dort hinfahren. Die unendliche Stille ist nämlich gar nicht unser Ding, und diese »Himmel-und-Hölle-zugleich«-Erfahrung kann uns vollständig gestohlen bleiben. Die kriegen wir hier jeden Tag gratis. Zum Beispiel im ICC, während wir die Abflughalle im Erdgeschoß verlassen, fällt unser Blick auf zwei Anzeigetafeln. Links geht's zum Polizistenball — das muß der Himmel sein — und rechts zum europäischen Fortbildungskongreß. Als solchen haben wir uns die Hölle schon immer vorgestellt. Doja Hacker