Das Brötchen und der Tisch

Interview mit John Cale  ■ Von Ulrich Sautter

John Cale wurde am 9. März 1942 in Garmant/Wales geboren. Nach einer klassischen Ausbildung an Piano und Viola (unter anderem bei Aaron Copland und John Cage) tauchte er 1965 in Andy Warhols „Factory“ als Mitglied der legendären Band „The Velvet Underground“ auf, neben Lou Reed und Nico. Nach seiner Trennung von den Velvets aufgrund verschiedener Meinungsverschiedenheiten verfolgte er zahlreiche Soloprojekte, die sich jeder Kategorisierung entziehen. In den letzten Jahren hat sich John Cale darüber hinaus vermehrt auf dem Felde klassischer Komposition betätigt. Vorläufiger Höhepunkt war die „Falkland- Suite“, ein orchestrales Werk, dem vier Gedichte von Dylan Thomas als Text zugrunde liegen (veröffentlicht 1989). Derzeit ist John Cale solo mit Piano und Gitarre auf Deutschlandtournee.

Ulrich Sautter: Zusammen mit Lou Reed hast du „Songs for Drella“ gemacht, dein vorletztes Album und eine Art Memorial für Andy Warhol. In den „sleeve notes“ schreibst du, Lou habe es dir erlaubt, eine Position der Würde einzunehmen.

John Cale: Das bezieht sich auf eine gewisse Entwicklung während der Arbeit an Songs for Drella. Es gab da am Ende viele Mißverständnisse. Ich glaube, was dahintersteckte, war ein Versuch, meinen Namen aus dem Titel zu entfernen, so daß ich kein Co- Produzent mehr gewesen wäre. Lou arbeitet sehr hart an den Texten, es ist für ihn eine sehr persönliche Sache. Darum ist es eine schmerzhafte Sache für ihn, mit jemandem zusammenzuarbeiten. Er tut sich sehr schwer, da jemanden ranzulassen. Sooft wir mit laufendem Band zusammen gearbeitet haben, einfach um Ideen loszuwerden, kam irgendwann der Punkt, bei dem es um die Texte ging, peng, dann war er weg. Ich hab' weiter und weiter Ideen gesucht, und er hat damit aufgehört und ist gegangen. Er arbeitet auch sehr gut auf diese Weise, er schließt die Tür, kann sich konzentrieren, irgendwelche Dinge aushecken und so weiter. Aber die Zusammenarbeit leidet darunter. Dann kannst du noch so sehr versuchen, dich einzubringen — er kann es nicht annehmen. Als ich gemerkt habe, daß es so kommt, habe ich gedacht: es hat sich nichts wirklich verändert seit 1969. Sehr deprimierend. Da habe ich mich eben gewehrt und nein gesagt. Wie dem auch sei: die Zusammenarbeit hat stattgefunden, sie hat geklappt, sie klappt auf der Bühne gut

Führt ihr „Songs for Drella“ tatsächlich noch gemeinsam auf?

Das letzte Mal haben wir das Projekt August letzten Jahres in Tokio aufgeführt. Aber das geschah nur, weil der Termin sich gerade angeboten hatte, weil er zum Ende von Lous Solotournee gepaßt hat. So bin ich hingeflogen und hab's gemacht. Wir hätten Songs for Drella zuvor sehr erfolgreich promoten und die Form des Projektes dennoch wahren können. Aber das hätten wir schon anpacken sollen, als wir noch beim Schreiben waren. Lou wollte es eben überhaupt nicht als gemeinsames Werk promoten. Er wollte die Platte als sein Soloalbum behandelt wissen. So lernt man eine andere Seite an ihm kennen.

Es gab aber auch noch ein anderes Problem. Als wir zu den Konzertveranstaltern gingen, sagten die: ihr könnt doch nicht solche Preise für eine einstündige Show verlangen, könnt ihr nicht noch eine Viertelstunde länger spielen? Nun wäre das überhaupt kein Problem an sich, aber dann haben sie gefragt: könnt ihr nicht altes Velvet-Underground- Material spielen?

Lou scheint Andy gegenüber ziemliche Schuldgefühle zu haben. Stimmt das?

Ja.

Gab es nicht vielleicht deshalb auch eine unterschiedliche Motivationslage für das Projekt?

Es gab eine Menge Bitterkeit zwischen Lou und Andy, zwischen Lou und Nico — ich meine, es gab beispielsweise keinerlei Kommunikation zwischen Lou und Nico seit — ich glaube 1975. Und als ich ihre Platten produziert habe, hätte ich mir immer gewünscht, daß Lou irgendwas beisteuern würde, daß er Songs für sie schreibt. Er war doch wirklich immer sehr, sehr gut darin.

Andy war, glaube ich, eine Art Spuk für Lou. Lou konnte einfach nicht glauben, daß jemand so gutmütig und wohlmeinend sein könne — Spiele so hart spielen zu können, wie er selbst sie auch spielte, aber dennoch nicht darüber bösartig und unmoralisch zu werden. Immer noch etwas Gutes aus der Situation rauszuholen. Aber ich kann nicht an Lous Stelle sprechen. Es ist ein sehr kompliziertes Thema.

Du hast gerade einen anderen Namen erwähnt: Nico. Du hast mit ihr zusammen das Album „Marble Index“ gemacht, was oft als Nicos musikalisches Testament verzeichnet wird. Meinst du, daß dieses Testament mittlerweile nach Nicos Tod noch immer Gültigkeit besitzt?

Es wurde 1969 aufgenommen. Wenn du dir anschaust, was Joni Mitchell damals tat, was Linda Ronstadt damals tat, was andere Künstlerinnen damals taten... Ein großer Unterschied, aber was Nico tat, war sehr stark, sehr stark. Sehr europäisch und ... kraftvoll. Sie wollte wirklich — ihre Seele gebären. Ein schmerzhafter Anblick, und doch ist es ein Genuß zuzuhören.

Hattest du noch Kontakt zu Nico während ihrer letzten Jahre?

Ja. Wir haben eine Tournee zusammen gemacht. Auch abgesehen von den Platten, die wir zusammen gemacht haben, gab es immer Verbindungen. Ich habe eine Japantournee gemacht, bei der ich ihre Band benützte. Das ist die Band auf Artificial Intelligence.

Das jüngste Album, das du herausgebracht hast, ist das „Wrong Way Up“-Album zusammen mit Brian Eno. Es scheint einen Kontrast zu geben zwischen deiner Zusammenarbeit mit Brian Eno und derjenigen mit Lou Reed, von der du vorher gesagt hast, daß sie nicht...

...nein, sie war schon toll. Wir haben immerhin in zehn Tagen vierzehn Songs geschrieben. Aber gefühlsmäßig ... ich weiß nicht... Es scheint, als habe er immer noch all die Animositäten gegenüber mir als einem Partner, worum es auch immer geht. Es ist wirklich enttäuschend.

Die Zusammenarbeit mit Brian Eno scheint dagegen harmonischer zu verlaufen.

Schon stimmlich. Wir haben großartige vocals.

Wie siehst du die Kombination deiner hauptsächlich akustischen Instrumente mit Brians elektronischen?

Das paßt gut zusammen. Was ich bei Brian mit am liebsten mag, sind seine Drumtracks, diese ausgelassenen, warmen Drumtracks.

Also das, was Brian „Rhythm bed“ nennt...

Genau. Es ist sehr angenehm, mit ihnen zu arbeiten. Sie hämmern nicht ständig auf dich ein. Ich könnte jeden Tag mit diesen Drumtracks arbeiten.

Manche Elemente des Albums finde ich noch immer etwas verwirrend...

Das Album wurde sehr unkompliziert gemacht, ohne tiefere Absicht. Wir versuchen selber rauszufinden, was wir da eigentlich gemacht haben, aber wir werden es niemals rausbekommen. Die Songs gingen durch viele Versionen. Vieles ist passiert, als ich nicht da war. Manchmal kann sich Brian nicht richtig entscheiden, aber für Entscheidungen ist nun mal nicht viel Zeit.

Ein Stück, das ich von „Wrong Way Up“ sehr mag, ist „Footsteps“. Darin heißt es: „I'm a man of many colours / only yesterday I was blue / ten days from now I'll be different / and so will you.“ Was ist John Cales Theorie über Kontinuität und Diskontinuität des Individuums?

Mein Gott. Hast du 'n paar Wochen Zeit? Ich meine: wirklich, es ist eine gute Frage. Natürlich gibt es ein Kontinuum (zeigt auf den Tisch, auf dem ein Brötchen liegt). Es ist eine der Ideen Buddhas, daß dies hier zwar ein Brötchen ist, daß dieses Brötchen aber unterhalb der Wirklichkeit dasselbe ist wie die zugrunde liegende Wirklichkeit dieses Tisches.

Daß Dinge also zugleich verschieden sein können und auf einer anderen Ebene dennoch identisch?

Ja.

Themawechsel: zu deiner klassischen Arbeit. Welche Projekte werden auf die „Falkland Suite“ folgen?

Ich habe ein Stück geschrieben für das Stockhausen-Festival im Mai. Das ist für Stimme und Orchester. Außerdem wird am New York International Music Festival eine Ballade aufgeführt, die ich geschrieben habe. Sie hat den Titel sanctus. Das wird am 9. Juni sein. David Byrne wird mitwirken.

Der orchestrale Sektor wird also deine musikalische Hauptbeschäftigung für die nächste Zeit sein?

Nächstes Jahr wird noch einiges mehr dazukommen: ich arbeite an einem größeren Stück von einigen Stunden Länge.

John Cale: „Artificial Intelligence“ (1985), auf Beggars Banquet, Number BBL 68

John Cale: „Words for the Dying“ (The Falkland Suite perfomed by the Orchestra of Symphonic & Popular Music of Gostelerradio, Moskau, 1989), auf Opal/Warner Broth.; Nr. 7599-26024-2

Lou Reed/John Cale: „Songs for Drella“ (1990), auf Sire/Warner Broth.; Nr. 7599-26140-2

John Cale/Brian Eno: „Wrong Way up“ (1990), auf Opal Warner Broth.; Nr. 7599-26421-2

Nico: „The Marble Index“ (1969) (in D nicht erhältlich)

Tourneetermine: 18.3. Hannover, 19.3. Berlin, 20.3. Chemnitz