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Gesetze gegen Ghettos

■ Sollen Frankreichs „gut verwaltete Kommunen destabilisiert“ werden?/ Scharfe Debatte über Gesetzesvorlagen des neuen Stadtministers erwartet

Paris (taz) — Soll der reiche Pariser Westen für den verarmten Norden zahlen? Über diese Frage werden heute die französischen Abgeordneten aneinandergeraten. Dem Parlament liegen zwei schon im Vorfeld heiß umstrittene Gesetzentwürfe des Stadtministers Delebarre vor.

Mehr Gerechtigkeit und Solidarität zwischen luxuriösen Vororten wie Neuilly sur Seine und trüben Betonsiedlungen wie Montfermeil soll eine Reform bei der Berechnung der staatlichen Zuweisungen an die Kommunen herstellen. Wegen der hohen Unternehmenssteuern verfügt beispielsweise Courbevoie mit seinem Büroviertel La Defense über 11.008 Francs je Einwohner; Chanteloup-les-Vignes erhält nur 918 Francs pro Person. Daraus ergeben sich weitere Ungerechtigkeiten: Die reichen Kommunen können es sich leisten, ihren Einwohnern ganz geringe Steuern abzuverlangen. In Neuilly beträgt die Wohnungssteuer gerade 2,27 Prozent, in Vaulx-en- Velin hingegen 12,6 Prozent und in Montfermeil sogar 17,2 Prozent.

Mit einem „Orientierungsgesetz für die Stadt“, kurz Anti-Ghetto-Gesetz genannt, will Delebarre zudem alle Gemeinden verpflichten, arme und reiche Wohngebiete zu mischen. Damit soll verhindert werden, daß noch mehr dieser tristen Schlafstädte entstehen, in denen in letzter Zeit immer wieder gefährlicher Unmut aufbrodelte. Falls sich ein Bürgermeister sträubt und nicht genug Sozialwohnungen in seine Stadt streut, soll der Staat eingreifen können. „Dies ist eine Abkehr von der Dezentralisierung“, kritisieren die Konservativen, die viele Bürgermeister in den wohlhabenden Städten stellen.

Diese Gesetzesvorschläge sind — wie auch das Amt des Stadtministers selbst — erste Konsequenzen der Unruhen, die im Herbst mehrere Betonstädte erschüttert hatten. Die gut situierten Franzosen schreckten auf, als im Oktober in Vaulx-en-Velin, einem Vorort von Lyon, die überwiegend arbeitslosen Jugendlichen auf die Straße gingen und sich harte Kämpfe mit der Polizei lieferten — was einige Kommentatoren bereits vom Bürgerkrieg sprechen ließ.

Staatschef Francois Mitterrand äußerte Verständnis für eine frustrierte Jugend, die in „seelenlosen Stadtvierteln geboren wird und in fürchterlichen Hochhäusern lebt, umgeben von einem Wettbewerb der Häßlichkeit, ohne Ausbildung und Arbeitsplätze“. In seiner Partei geht unterdessen die Sorge um, die Ära Mitterrand könnte im Schein brennender Vorstädte zu Ende gehen. „Wenn wir nichts unternehmen, wird uns der Mai 68 bald als kleines Geplänkel erscheinen“, befürchtet ein Sozialist. Die konservative Opposition scheint dieses Szenario nicht zu plagen. Der Pariser Bürgermeister Chirac (RPR) sieht hinter dem geplanten neuen Steuerausgleich nur die Absicht, „die gut verwalteten Kommunen der Ile-de-France und vor allem Paris zu destabilisieren“.

Der kommunistische Bürgermeister von Vaulx-en-Velin, Maurice Charrier, begrüßt den Versuch, die „Einteilung in soziale Zonen“ zu durchbrechen. Vaulx-en-Velin besteht zu 75 Prozent aus Sozialwohnungen. Ohne gleichzeitige Maßnahmen für eine bessere Berufsausbildung und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze blieben viele französische Vorstädte jedoch ein Pulverfaß. Bettina Kaps

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