Geheimstudien über Exxon-Schäden

Die Ergebnisse über die Folgen des Tankerunglücks sollen der Öffentlichkeit vorenthalten werden/ Alaskas Küste hat sich noch lange nicht erholt/ Weniger Wale und kein Nachwuchs bei Lummen  ■ Von Silvia Sanides

Washington (taz) — Zwei Jahre nach der Erdölkatastrophe in Alaska haben sich Wale, Seevögel, Meerespflanzen und viele andere Lebewesen noch nicht von dem Unfall erholt. Dies beweisen geheime Regierungsstudien, die in den letzten Wochen in Auszügen in die Hände der Presse oder Umweltorganisationen geraten sind. Sowohl der Staat Alaska wie die US-Regierung weigerten sich bisher, wissenschaftliche Untersuchungen über die Auswirkungen der Ölpest zu veröffentlichen, weil das Verfahren gegen den Exxon-Konzern nicht abgeschlossen war.

Einige Informationen über die Studien gerieten dennoch an die Öffentlichkeit: Doug Wolf, Alaska-Experte bei der Umweltorganisation „National Wildlife Federation“, erfuhr von einem für die Regierung arbeitenden Meeresbiologen, daß die Zahl der Schwertwale im vom Öl verseuchten Prinz William Sund seit der Katastrophe zurückgeht. Fotos, die in den Tagen nach dem Tankerunfall aufgenommen wurden, zeigen, wie sich Herden von Schwertwalen im auslaufenden Öl tummeln. Jetzt haben die Biologen festgestellt, daß eine Herde von 60 Walen, die sie seit Jahren genau beobachten, in den letzten zwei Jahren über dreißig Prozent ihrer Mitglieder verloren hat. Man nehme an, so Wolf, daß die Tiere an den Folgen der Ölverseuchung gestorben sind.

Anderen Quellen zufolge haben sich die Seegraskolonien in der Gezeitenzone des Sunds bisher nicht erholen können. Da Seegras vielen Muscheln, Krebsen und jungen Fischen Lebensraum und Schutz bietet, verzögert sich somit die Erholung des gesamten Ökosystems.

Besonders auffällig ist die Auswirkung auf einige Vogelarten. So ist die Zahl der auch auf Helgoland vorkommenden Lummen stark zurückgegangen. An die 150.000 Lummen waren dem Öl direkt zum Opfer gefallen. Seit der Katastrophe haben die Vögel obendrein aufgehört, sich fortzupflanzen.

Kein Nachwuchs bei Lummen

Normalerweise brüten die Vögel in großen Kolonien pro Jahr ein Junges aus. Die Wissenschaftler vermuten, daß es nicht genug erwachsene Vögel gibt, um Brutkolonien zu schützen. An die 300.000 junge Lummen wären normalerweise im Prinz William Sund in den letzen zwei Jahren geboren worden. Andere Studien beweisen, daß ölverbindungen in die Nahrungskette gelangt sind. Noch 1.000 Kilometer vom Unglücksort entfernt fanden die Wissenschaftler im letzten Frühjahr Tiefseefische, deren Gallen mit Ölverbindungen angereichert waren. Mit hoher Wahrscheinlichkeit haben sich diese Fische von anderen Fischen bzw. Pflanzen ernährt, die mit Öl verseucht waren. Wegen der räumlichen und zeitlichen Entfernung von der Katastrophe ist die Vergiftung der Fische durch direkte Berührung mit dem Öl ziemlich unwahrscheinlich. Auch ein anderes Team von Wissenschaftlern, das Lachs auf Spätschäden untersuchte, vermutet eine Verseuchung der Nahrungskette. Die Forscher fanden in den Fischen bestimmte Enzyme, die normalerweise nur auftreten, wenn die Tiere Öl mit ihrer Nahrung aufnehmen.

Umweltschützer hoffen, daß weitere Informationen über ökologische Folgen der Ölkatastrophe bald bekannt werden. Eric Jorgensen von der Umweltorganisation „Sierra Club“ betont, es gebe keinen Grund, die Studien weiterhin unter Verschluß zu halten, da die Regierung in Washington und der Staat Alaska ihr Verfahren gegen Exxon jetzt außergerichtlich beigelegt haben. Deshalb solle „alles gesammelte Datenmaterial der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden“. „Der Steuerzahler hat die Studien finanziert. Das sind öffentliche Informationen.“ Einige Behörden haben jedoch erklärt, daß sie ihre Studien weiterhin geheimhalten werden, weil Klagen gegen sie noch anhängig sind. Geschädigte der Ölkatastrophe haben neben Exxon auch staatliche und bundesstaatliche Behörden verklagt.

Umweltvertreter Wolf ist über die Geheimniskrämerei empört, weil auf diese Weise mit juristischen Tricks der Ökoszene die wichtigsten Informationen über die Auswirkungen der Ölpest vorenthalten werden. Regierungsunabhängige Studien gibt es nämlich kaum. Womöglich fürchten die Behörden, daß Umweltschützer mit Hilfe der Studien zu dem Schluß kommen könnten, Exxon sei zu glimpflich davongekommen. Ergebnisse einer weiteren geheimen Regierungsstudie, die diese Woche der 'Washington Post‘ zugespielt wurden, erhärten den Verdacht. Die wahren Kosten der Ölkatastrophe, inklusive „soziale Kosten“, so die Zeitung, werden in den Studien auf drei Milliarden Dollar geschätzt. Das ist fast das Dreifache der Summe von 1,1 Milliarden Dollar Strafe und Schadenersatz, zu der Exxon vor zehn Tagen verpflichtet wurde.