: Das Krankenhaus als Warteschleife für Ausgediente
■ Im Prozeß gegen vier Angestellte des Wiener Krankenhauses Lainz wird die Schuld reihum gereicht / Mundpflege, Insulin und Psychopharmaka beförderten Sterbenskranke "etwas schneller"...
Aus Wien Heide Platen
Vom grauen Marmor der Wände hebt sich nur noch grauerer Marmor ab im Großen Schwurgerichtssaal des Wiener Straflandesgerichts. Der hohe, halbrunde Raum liegt unten in dämmrigem Schatten. Das Tageslicht fällt nur hoch oben, über den Köpfen der Menschen, durch die Fenster und scheint so wenig auf die vier Frauen herab, über die hier zu Gericht gesessen wird, wie auf die elf Geschworenen, die Verteidiger und die Richter. Es fängt sich vielmehr in den hellen, üppig verschnörkelten Kassetten der Stuckdecke. Auf der Anklagebank seit Tagen die gleiche, seltsame Symmetrie: je vier ständig gesenkte Köpfe, abwechselnd, neben je vier ständig erhobenen Köpfen. Die des 42fachen Mordes angeklagte Krankenschwester Waltraud Wagner (32) und die Pflegegehilfinnen Irene Leidolf, Maria Gruber und Stefanija Mayer sitzen zwischen ihren BewacherInnen — stundenlang starr nach unten blickend. Ihre Hände bewegen sich, kneten, verdrehen sich in merkwürdigem Eigenleben, falten sich zusammen und wieder auseinander. Nur Erika Leidolf blickt hin und wieder flüchtig nach oben. Und das wird ihr auch schon angekreidet: „Wenn die doch nicht immer so frech gucken würde“, sagt eine Banknachbarin. Sie war Krankenschwester und ist in Ehren ergraut. Zu ihrer Zeit hat es „das“ nicht gegeben.
„Das“ geschah in den Jahren 1983 bis 1989. In der 1. Medizinischen Abteilung, Pavillon V, Station D, des Krankenhauses im Wiener Stadtteil Lainz, nahe Schönbrunn, starben jährlich zwischen 400 und 500 PatientInnen, statistisch fast jeden Tag zwei. Es waren meist alte Menschen, eingeliefert aus Altenheimen und Familien, weil ihr Sterben nicht erwünscht oder nicht erträglich war, oder weil ein Heimplatz für die Pflegefälle fehlte. Das Krankenhaus wurde zur Warteschleife, zur ständig überbelegten Verwahranstalt, zum Abladeplatz für Ausgediente, Verbrauchte — Betten auf dem Gang inclusive. Und damit nahm das Verhängnis hier, wie vermutlich anderswo auch, seinen Lauf. Der Notstand der Entsorgung alter Menschen in den Kliniken, in Österreich werden sie Spitäler genannt, traf zusammen mit dem Pflegenotstand, dem Personalmangel und der Überlastung der Ärzte, der Krankenschwestern und Hilfskräfte. Und verdichtete sich zu einer tödlichen Gemengelage.
Das macht dies Verfahren so unheimlich. Niemand wird je genau sagen können, wie das, was die Frauen gestanden haben, wirklich anfing, am wenigsten sie selber. Ihren Geständnissen fehlt das eindeutige Motiv. Seit 1983, sagte Stefanija Mayer aus, habe sie gewußt, daß Waltraud Wagner über das Wissen verfügte, wie sterbenskranke Alte beschleunigt zu Tode gebracht werden können: „Mit Wasser“ und: „Man muß irgendwas mit der Zunge machen.“ Dazu habe „eine Schwester genügt“. Sie selbst habe mehrmals „assistiert“. 32 der 42 angeklagten Fälle werden Waltraud Wagner zur Last gelegt. Zehn, jedenfalls „nicht mehr als elf“, hat sie gestanden.
Der Gerichtsmediziner Christian Reiter, der mit den Frauen während deren Vernehmungen „ein gutes und sachliches Gespräch“ führte, sagt in seinem Gutachten ebenso wie sein Kollege Johann Missliwetz, er habe dazugelernt. Der medizinische Begriff „Mundpflege“ habe für ihn bisher bedeutet, den Menschen zu helfen, ihnen den Mund zu befeuchten, wenn sie nicht selber trinken können, und die austrocknenden Schleimhäute zu desinfizieren. Dies geschieht mit einem Spatel, einem Holzstäbchen. Daß sich mit demselben Spatel die Zunge des Patienten herunterdrücken läßt, um dann dem „horizontal liegenden“ Delinquenten „ein Schlückchen“ Wasser, so der Hausjargon, einzufüllen, ungefähr die Menge eines Joghurtbechers, sodann den Unterkiefer hochzudrücken, um das Ausspucken zu verhindern, und daß dies unweigerlich zum Tode durch Ertrinken, Überbegriff Ersticken, führt, wußte er nicht. Das eingeweihte Lainzer Krankenhauspersonal hatte damit, vermutlich eher zufällig, eine perfekte Mordmethode entdeckt. Angewendet haben sie sie, das sagten die vier Angeklagten bei ihren zahlreichen, endlosen Vernehmungen immer wieder, nur bei Sterbenden, bei, ebenfalls Hausjargon „schlechten Patienten“, die durch Lungenödeme ohnehin „völlig verschleimt“ gewesen seien. Sie wären dann meist innerhalb einer Stunde tot gewesen. Es waren, stellt Gutachter Reiter lakonisch fest, Patienten, die ohnehin gestorben wären, ohne die „Mundpflege“, eben nur „etwas später“. Den Nachweis für diese Todesursache kann keine Obduktion erbringen. Rechtsanwalt Wilhelm Philipp, der Waltraud Wagner vertritt, stellt dazu fest: „Wir haben nichts. Wir haben nur die Geständnisse.“
Anders, aber auch komplizierter, sieht es in diesem Verfahren aus, wenn es darum geht, festzustellen, daß Leidolf und Wagner das Sterben der Alten mit überhöhten Gaben von Psychopharmaka und Insulin beschleunigten. Sie haben dazu nichts anderes benutzt als das, was ohnehin in hohen Dosen üblich war: Rohypnol, Valium und Dominal forte. Psychopharmaka also, Psycho-Hämmer, deren Sinn und Zweck mittlerweile auch in der Psychiatrie umstritten ist. Sie werden u.a. angewendet, um künstlich beatmete Patienten ruhigzustellen oder bei der Anästhesie zu sedieren. Sedieren sollten sie auch in Lainz: Alte, schwierige Patienten wurden von den Ärzten sofort ruhiggestellt — egal, ob das zu ihrem Krankenbild paßte oder nicht. Ein Pharmakologe bringt das auf den Punkt: Psychopharmaka seien bei alten, herz- oder lungenkranken Menschen eigentlich kontraindiziert und nur sehr vorsichtig, in „geringen, altersgerechten Dosen“, zu verwenden.
An den Tagen zuvor waren die vier Frauen auf der Anklagebank schon längst zur Staffage geworden. Es ging vielmehr ausgiebig um die Hierarchisierung der Schuld an den Zuständen im Lainzer Spital. Die wurde säuberlich von oben nach unten weitergereicht. Der Zeuge Wendelin Wanka, Senatsrat der Wiener Magistratsdirektion, trat dabei als Vertreter der obersten Instanz auf. Er hatte die Zustände in Lainz, die durch „anonyme Gerüchte“ an den Tag gekommen waren, im April 1989 einer offiziellen Prüfung zu unterziehen und geißelte, was das Zeug hielt. Patienten lagen ungewaschen in ihren Fäkalien, lagen sich wund, dursteten und hungerten, das Essen war kalt, der Umgangston rauh. Sie wurden distanzlos geduzt, beschimpft, wenn sie klingelten oder die Notrufklingeln wurden ganz aus ihrer Reichweite entfernt. Dies alles sei von den Ärzten stillschweigend geduldet worden.
Als Verantwortlichen macht Wanka den Leiter der Station, Franz Pesendorfer, aus. Daß die Klinik so wenig Fachpersonal gehabt habe, möchte er auf keinen Fall der Stadt angelastet wissen. Damals sei es das Bestreben gewesen, durch viele Hilfskräfte „die Grundpflege zu sichern“. So waren, wie Wagner, die ebenso wie Leidolf an den Prüfungen gescheitert war, etliche „undiplomierte“ Helferinnen zu Krankenschwestern avanciert. Der von Wanka selbst konstatierte und erreichte Effekt dieser Strategie treibt Staatsanwalt Ernst Kloyber zur Bissigkeit: „Dann waren das wohl alles Grundpflegemaßnahmen?“
Professor Pesendorfer ist inzwischen rehabilitiert und in einer Privatklinik tätig. Er geht ganz in der Rolle des aufopfernden, verantwortlichen Mediziners auf, umgeht Wankas Vorwürfe und zieht den Gesundheitsstadtrat Alois Stacher, damals sein direkter Vorgesetzter, zur Verantwortung. Stacher allerdings ist im Zuge der Lainzer Affaire zurückgetreten. Er wird nicht einmal in den Zeugenstand treten müssen, wenn das Gericht nicht doch noch einem entprechenden Antrag der Verteidgung stattgibt. Immer wieder habe er schriftlich auf den Personalmangel hingewiesen aber nie eine Antwort erhalten, beklagte sich Pesendorfer. Er sei vielmehr arrogant abgefertigt worden. Der Arzt verteilt die Schuld gleichmäßig in alle Richtungen — und von sich weg. Er habe schwer gearbeitet, von „8.30 bis 15 Uhr“ sei er immer dagewesen, habe sich aber gegen das Regiment der Schwestern nicht durchsetzen können und weder Einfluß noch Kontrolle über die Dienstpläne gehabt. Daß in Lainz seit Jahr und Tag nichtdiplomierte Hilfsschwestern mit Spritzen und Infusionen hantierten, sei ihm bewußt, aber — siehe Personalnotstand — unvermeidlich gewesen. Der hohe Verbrauch von Rohypnol sei ihm nie aufgefallen, der sei auf seiner Station immer schon, „aus strukturellen Gründen“, hoch gewesen. Die Medikamentenlisten, zum Beweis zieht er einen ellenlangen Computerausdruck aus der Tasche, seien von ihm „nur nach ökonomischen Gesichtspunkten“ zu überprüfen gewesen. Das Personal habe zu einem offenem Medikamentendepot Zugang und dabei „ziemlich freie Hand“ gehabt. Der Versuch einer genaueren Kontrolle sei am Widerstand der Schwestern gescheitert.
Die Patienten wurden, vor allem am Abend und in der Nacht, den Frauen überlassen, die der Situation in keiner Weise gewachsen und auch nicht dafür ausgebildet waren. Waltraud Wagner, die in den Gazetten als „Hexe“, „Anführerin“ und „Peinigerin von Lainz“ apostrophiert wird, hatte in ihren Aussagen versucht, zu erklären, warum sie tötete. Nie habe ihr jemand gesagt, was zu tun sei, wenn die Patienten vor Schmerzen weinen, schreien, röcheln. Nie sei ein Arzt dagewesen, der sich ihre Nöte angehört habe, zu den „Chefs“ habe sie als kleine Angstellte gar nicht erst Zugang bekommen. Daß sie dann, „das war unter den Schwestern abgesprochen“, selber handelte, aussortierte, bestimmte, wer leben durfte und wer nicht, erklärte sie damit, daß sie das Leiden nicht mehr hätte mit ansehen können. Gegen diese Sicht der privaten Triage der Lainzer Schwestern spricht der Umgangston, der sich — wohl nach und nach — auf der Station eingeschlichen hatte. Das Personal behandelte den ruhiggestellten, röchelnden, sabbernden menschlichen Müll, den ihm die Gesellschaft geliefert hatte, eben nicht mit der liebevollen Aufopferungsbereitschaft, das dem Klischee der helfenden, heilenden weißen Schwester entspricht. Waltraud Wagner soll, ebenfalls Hausjargon, ab und zu ihren höchstpersönlichen Gott bemüht haben. Zeuginnen sagten aus, sie habe ihre Sterbehilfe mit einem Blick nach oben angekündigt: „Beim Pepi ist noch ein Zimmer frei!“ Die Frauen mögen sich tatsächlich als das gefühlt haben, was sie letztlich auch waren: die Sachwalterinnen der Endstation. Sie gestehen ihre Schuld inzwischen ein. Professor Werner Pesendorfer hingegen machte vor Gericht seine eigene Rechnung auf. Er zählte, daß im Pavillon V vom 1. bis 14. März 1991 14 Menschen gestorben seien. In Lainz gebe es jetzt, sagt er fast triumphierend, „mehr Tote als früher“. Ihm genügt es sichtlich, Beschwerdebriefe geschrieben zu haben. Er nahm Patienten — weit über die Kapazitätsgrenzen der Station hinaus — auf. Seiner Auffassung, seinem ärztlicher Ethos nach, sagt er, habe er niemandem, „der sein Leben lang gearbeitet hat, das Recht auf ein Krankenhausbett verweigern“ können. Daß er dabei den realen Arbeitsalltag seiner Angestellten sträflich aus den Augen verlor, fällt ihm nicht auf.
Zwei Psychiater und ein Psychologe bemühen sich, den Geschworenen ein Bild der Angeklagten zu liefern — und landen doch eher beim Schweinsgalopp durch die Küchenpsychologie. Alle drei bescheinigen den Frauen volle Schuldfähigkeit, durchschnittliche Intelligenz und Unauffälligkeit, „wie tausende andere Menschen auch“. Daß es in ihren Familien Schwierigkeiten und schwierige Sterbefälle gegeben hat, wird kaum näher untersucht — wäre allerdings wohl auch für die Motivsuche nur marginal. Professor Rudolf Quatember läßt sich bei seiner Volkstümelei in Richtung der Geschworenen kaum übertreffen. Die Frage, wie es denn angehen könne, daß die Angeklagten als so freundlich, zuverlässig und sorgfältig gegolten hätten, beantwortet er frei nach Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Den Versuch von Rechtsanwalt Eichenseder, seine Mandantin, Stefanija Mayer, als der Wagner untergeordnet zu charakterisieren, treibt Quatember in die Welt des Kartenspiels. So sei das eben im Leben: „Der Ober sticht den Unter, der Unter sticht den Zehner.“ Das Aufschlußreichste bleibt das fast zusammenhanglose Stammeln der Frauen, das die Wissenschaftler immerhin säuberlich notierten: ein wirres Gemisch von Selbstanklagen, Beschuldigungen von Kolleginnen, Klagen über das Arbeitsklima und die Ärzte und Jammer über den eigenen, in allen Fällen derzeit depressiven, Zustand. Ein Schlüssel könnte dabei ein Satz von Waltraud Wagner sein, die ihre Schuld in den Kontext der Lainzer Gepflogenheiten einordnet: „Das wurde ja von den Ärzten auch gemacht.“
Mehrere Verhandlungstage werden von zahlreichen weiteren Professoren bestritten. Sie beleuchten den Tod von Lainz gerichtsmedizinisch, chemisch, pharmakologisch, toxisch. Obduktionsbefunde faulender Leichen, breiiger Hirnmassen, vertrockneter Gewebe sind akribisch auf mögliche Todesursachen und Medikamentenrückstände untersucht, mehrfach geprüft und analysiert worden. Dabei werden lange Versuchsreihen, zum Beispiel mit Insulin, zitiert. Die Experten schaffen es auch im Gerichtssaal problemlos, Menschen als reaktive Masse hinter den Versuchsreihen verschwinden zu lassen. Den sterblichen Überresten der Alten von Lainz ist jedenfalls mehr Aufmerksamkeit, Akribie und Sorgfalt gewidmet worden als ihrem Leben vor dem Tod und während des Sterbens.
Das Urteil wird in dieser Woche erwartet. Werner Vogt schrieb in der Wiener Wochenzeitung 'Falter‘: „Die österreichische Justiz sollte sich Gutachter leisten, die den langen Weg dieser vier Frauen zu gehen imstande sind. Wenn die vier Frauen und die Geschworenen verstanden haben, was hier vorfiel, wird es auch mildernde Umstände geben.“
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