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Bau auf, bau auf...

■ Drei Generationen auf einem Bauernhof im Beitrittsgebiet

Das Gehöft der Familie M. liegt im Süden der DDR, nahe an M., in einem stillen sonnigen Tal. 1884 erbaut, stehen die verputzten Ziegelgebäude und hölzernen Scheunen immer noch einigermaßen unversehrt auf ihren Steinfundamenten. Ringsum, zwischen sanft ansteigenden bewaldeten Hügeln, breiten sich die Wiesen und Rapsfelder der LPG-Pflanzenproduktion aus bis hinunter zum Dorf. Es herrscht die DDR-typische Landidylle, Ergebnis sozialistischer Dürftigkeit. Hölzerne Telegraphen- und Strommasten zeigen die Richtung zum nächsten Dorf an. Auf den bemoosten Dächern nirgendwo eine Fernsehantenne. Hier ist der Empfang besonders schlecht, und an Westfernsehen war schon gar nicht zu denken. Das soll sich jetzt alles ändern.

Tritt man durch das hölzerne Tor in den Hof ein, so erfordert das gute Nerven. Mischa, neuestes Mitglied der Familie M. und vormals Grenzschutzhund, tobt an der Kette und reißt schier seine Hütte aus der Verankerung. Mit schrecklich geblecktem Gebiß wird jeder Fremde so lange angefletscht, bis die Sache zufriedenstellend geklärt ist. Ansonsten trage er junge Katzen in seinem Maul spazieren, wird mir versichert. Übers Kopfsteinpflaster toben zwei struppige Ziegen, unter der Kastanie haben sich braune Hühner im kühlen Schatten eine Sandkuhle gegraben. Neben dem Eingang des Wohnhauses stehen zwei weißlackierte Holzbänke, dahinter, an der Hauswand, wuchert Wein bis zur Dachrinne hinauf. Vor dem Schuppen stehen zwei aufgebockte Autowracks, nun überflüssig geworden als Ersatzteillager, wo ein Wartburg überall billigst zu haben ist.

Der Hof, durch seine Viereckform geräumig und nach außen hin abgeschlossen, wirkt wie eine friedliche Insel in stürmischer See. Die Bewohner: Großmutter, Mutter, Tochter und Mann. Sie teilen sich, was da ist und noch kommt. Die Mischung aus Privatleben, Zusammenleben und gemeinschaftlicher Arbeit ist recht ausgewogen, die Stimmung also gut. Das Reich der beiden Alten ist das obere Stockwerk und der große Obst- und Gemüsegarten hinter dem Haus. Dieser altmodische Bauerngarten erfreut das Auge mit seinen Gemüsebeeten und den Blumen, die über den Lattenzaun ragen. Von hier aus führt ein Pfad durch die Wiese hinüber zum Bach, am dem es Frösche und schwarze Libellen gibt.

Mutter und Großmutter

Gerade ist ein Gewitter niedergegangen. Von den Wiesen her kommt ein Geruch nach gemähtem Gras durchs offene Fenster. So muß es schon immer gewesen sein hier, nur daß man sich früher zu dieser Tageszeit wohl kaum zusammengesetzt hätte mitten in der Ernte.

Die Großmutter hat bei sich in der Wohnstube den Tisch gedeckt. Gertrud, die Tochter, wollte eigentlich lieber, daß wir drüben bei ihr sitzen wegen der neuen Schrankwand in Eichenfurnier und bequemerer Sessel, aber nun hat sie nachgegeben und den selbstgebackenen Pflaumenkuchen rübergeholt.

„Die Kinder kommen erst später, wenn sie fertig sind mit der Arbeit“, sagt die Großmutter und wischt eine tote Fliege von der Fensterbank. „Die werden ja lieber für sich erzählen“, vermutet Gertrud und fährt fort, während sie Kuchen und Sahne verteilt, „ich weiß gar nicht mehr, wohin mit dem vielen Obst dieses Jahr. Ich habe keine Gläser mehr, und in der HO können sie nicht sagen, wann und ob überhaupt noch mal neue kommen. Es wird alles schlecht. Früher hat man uns alles abgenommen, heute nichts mehr, nicht eine Tomate, nicht ein Ei! In allen Läden liegen nur noch Westwaren aus. Gemüse aus Holland, Obst aus Spanien, alles nur noch aus dem Ausland, und das Einheimische verschimmelt. Ne, also daß irgendwas besser geworden ist mit dem Kapitalismus, den wir jetzt haben, das könnt' ich eigentlich nicht sagen, was Mutter?“

„Nu, was soll ich da sagen ... von Politik, da versteh' ich nichts. Am schönsten isses ja immer in der Jugend! Wir hatten hier unser Tanzvergnügen, immer war da was ... Hochzeiten, Erntedank, Sonnwend. 1934 hab' ich dann meinen Mann geheiratet, einer aus dem Nachbardorf. Sieben Morgen Land hat er mitgebracht in die Ehe und da, das kleine Buchenwäldchen dort drüben. Bei ihm auf dem Hof waren sie zwölf, da kam er hierher. Wir waren dann sieben mit meinen beiden jüngeren Brüdern, den Eltern und dem Großvater. Arbeit gab's genug auf zwölf Hektar. Da ging's ja noch mit den Pferden raus morgens. Und dann backen, melken, Schweinefutter kochen, Wäsche waschen, ausmisten, Feldarbeit, alles das mit den Händen. Jeder hat nach Kräften geholfen, sogar gebetet haben wir noch zusammen.

1935 ist dann die Gertrud gekommen, das Jahr später ein Söhnlein, das gleich gestorben ist. Und dann kam der Krieg. Zuerst gingen die beiden Brüder weg, dann der Mann, später sogar noch der Vater. Zwei Polen hat man uns dafür gegeben, die mußte man erst mal auffüttern, bevor sie zupacken konnten.

Nu, viel Abwechslung hatten wir nicht. Einmal im Monat, immer an einem Donnerstag, kam einer von der Stadt mit Pferd und Wägelchen. Ein Jud ... na, wie hieß er doch gleich, es liegt mir auf der Zunge ... also, der hatte alles. Man konnte auch bestellen. Sachen für die Wirtschaft, Stoff, Bänder, Knöpfe, Stopfgarn, Ledersohlen, Nägel, alles, aber das schönste war, er hatte auch Süßigkeiten. Da hab' ich mir dann manchmal ... es hieß Nappo, ich weiß es noch wie heute ... ganz süß und klebrig im Silberpapier, eckig... Nu, und die Kinder waren ja ganz verrückt! Haben immer schon unten gewartet an der Brücke auf ihr Geschenk, mal gab's ein Himbeerbonbon, mal Lakritz. Mit einmal war er weg. Der Ortsgruppenleiter hat uns gesagt, daß alle Juden jetzt im KZ sind. Na, das war traurig, besonders für die Kinder, denn einen Ersatz hat man uns nicht geschickt ... ja, mit der Zeit hat man ihn vergessen, ich weiß gar nicht, wie ich jetzt drauf komme. Ach, wir haben's nicht leicht gehabt in der Adolfzeit. Und dann, nach dem Zusammenbruch...“

„Der Befreiung!“ ruft Gertrud. „Also, nach der Befreiung“, führt die Großmutter fort, „da hat uns keiner was geschenkt, im Gegenteil! Der Russe hat uns hier vom Hof alles weggeführt. Unsere zwei Pferde, die Kühe, das Schwein, Hühner, sogar das Saatgut. Und nur weil die Polen beide für uns gutes Zeugnis abgelegt haben, ist nichts weiter passiert, außer daß so einer mit Chinesenaugen der Gertrud den Rock hochgerissen hat...“

„Das war ein Mongole, Mutter, aber der hat ja nur Spaß gemacht.“ Die Großmutter bleibt dabei: „Mir kann man nichts erzählen, wie die Tiere haben sie's getrieben, über alles, was Zöpfe hat, sind die hergefallen, nur uns haben sie drei Hühner und den alten Ziegenbock gelassen.

Damals war sogar die Nahrung bei uns knapp. Zuerst ist der Großvater gestorben, dann, weil mein Vater ja gefallen war, hat es auch die Mutter nicht mehr lange gemacht. Meine beiden Brüder waren vermißt ... bis heute, da stand ich nun da, alleine mit einer kleinen Tochter, ohne Pferde, ohne Polen. Und die Felder sind verkommen, alles voller Unkraut, kein Saatgut. Dann kam mein Mann aus der Gefangenschaft, alles Haut und Knochen. Der hat sich nie wieder erholt. Ich wollte schon alle Hoffnung aufgeben, da hieß es eines Tages, so, jetzt muß der Bauer aber zupacken und die Volksernährung sichern. Von irgendwoher, wir glauben vom Gut oben, bekamen wir plötzlich Pferde, Kühe, Schweine, Hühner und Saatgut.

Der Großgrundbesitz, das, was jetzt LPG ist, wurde damals aufgeteilt unter die Neubauern. Auch zu uns hat man Flüchtlinge einquartiert zur Hilfe, Städter aus Danzig. Endlich ging's wieder aufwärts mit dem Hof. Aber mit dem Mann ging's immer abwärts, langsam, langsam, bis er dann gestorben ist...“

„Das hat ihn einfach umgebracht, was damals passiert ist“, ergänzt Gertrud, „das hat ja schon '52 angefangen mit dem Druck, daß man in die Genossenschaft soll. Die ganzen Neubauern sind ja alle gleich eingetreten, die konnten ja nicht anders, und auf uns Altbauern haben dann alle mit Dreck geworfen. Man hat uns ja richtiggehend fertiggemacht. Wer sein Soll nicht erbrachte, der hatte gleich Geldstrafe und sogar Gefängnis, aber wie sollte man das Soll erbringen mit dem schlechten Saatgut, das sie uns gaben? Und Ersatzteile durften an uns auch nicht abgegeben werden, das war Verordnung, so hat man die Altbauern weichgemacht oder in den Ruin getrieben. Hier, um M. rum, wir waren berühmt, weil wir am längsten Widerstand geleistet haben. Aber für uns war's dann aus damit, als Vater starb, da haben wir unterschrieben. Unsre schönen Kühe habe ich selbst hochtreiben müssen zum Gut, in dem die LPG damals noch saß. Heute zerfällt dort alles...

Das war traurig, dieser Moment. Mutter und ich haben dann oben angefangen als Melkerinnen und in der Landarbeit. Das war eine Umstellung für uns, nun wie die Mägde zu leben. Aber am Nachmittag waren wir fertig, das hatte auch sein Gutes. Etwas individuelles Vieh und private Wirtschaft hatten wir ja noch behalten dürfen, da haben wir uns hier unserem gewidmet, zur Erholung.

1958 haben sie dann die neuen Ställe gebaut, aus Beton, alles riesengroß und dann offen, nach russischem Vorbild. Ganz modern. Aber unsere Kühe waren das nicht gewöhnt, die haben sich mit den Hörnern gegenseitig aufgespießt, da wurden im Nu alle krank, es war auch viel kälter. Die Milchleistung ist gesunken, überhaupt, alles ging schief, auch mit den Kälbern, die sind uns verendet. Noch mal möchte ich das nicht erleben. Dann hab' ich meinen Mann kennengelernt, der war Traktorist bei der ,Pflanze‘.“

„Ein Taugenichts war er“, ruft die Großmutter, „ein Stadtmensch aus Dresden, aus Strafe war der hier und hat dann Frau und Kind sitzengelassen...!“

„Na, ganz so war's nicht, Mutter! Ich wollte ihn ja gar nicht mehr, als er sich so verändert hatte durch das Trinken, die ganze LPG hat ja gesoffen...

Ich weiß auch nicht, irgendwie erinnert mich das heute wieder so an damals, das ganze Chaos, und alle saufen nur noch. Und was haben sie gesagt? ,Eure einzige Chance ist die Kollektivierung der Landwirtschaft.‘ Und heute wie damals sind die Felder voller Melde, die Kartoffeln bleiben in der Erde liegen, und jetzt, im September, steht immer noch das Brotgetreide auf dem Halm, bis es verkommt in den ersten Regenwochen. Keine Käufer, keine Lagerhallen hier, keine Ernte! Was da steht, sagt der Vorsitzende, das ist halt noch der ,falsche Plan‘.“

„Nu“, sagt die Großmutter in ihrem weichen Sächsisch, „das ist eine große Schande, so was...“

„Aber es ist ja noch viel schlimmer, Mutter! Der Vorsitzende sagt, wir schaffen es nicht mit den vielen Schulden, den Lohn kann er nicht auszahlen. Was soll nur werden? Wir sind 200 Leute, haben fast 1.000 Hektar Land bearbeitet mit drei Dörfern, 700 Stück Milchvieh sind noch da, die Schweinemastanlage, das alles. Zuerst hieß es, Pflanzen- und Tierproduktion sollen wieder zusammengelegt werden, dann wieder war alles viel zu groß, jetzt sollen wir uns ganz auflösen.

,Nehmt euch doch‘, sagen sie, ,nehmt doch ein, zwei Schweine mit nach Hause‘, auch die Kühe müssen ja weg. Aber was sollen wir damit? Wir haben ein gutes Gedächtnis. Jetzt, wo alles nur noch Abfall ist, da können wir uns die Reste nehmen auf eigenes Risiko. Man sagt uns, na, vielleicht könnt ihr ja euer Land bald mal günstig an den Mann bringen. Na, das war ja das schlimmste Verbrechen!

Ich arbeite in der LPG-Betriebsküche. Am Ersten machen wir zu. Das werden dann für mich in der Frührente nicht mehr als 500 sein, und das bei unseren neuen Westpreisen hier. Was ist das für eine Freiheit, die uns ärmer macht, als wir waren?“

Elke und Alexander

Elke, 29, leitet den LPG-Kindergarten im Nachbarort. Alexander, 31, studierte Architektur und arbeitet, wie viele hier, in mehreren Berufen, mal als Restaurator, mal als Zimmermann, Postbote, Traktorist, Kraftfahrer oder Dackdecker. Derzeit fährt er die LPG-Milch zur Molkerei und, falls man sich doch zur Drusch entschließt, den Mähdrescher Marke „Fortschritt“.

Draußen ist es dunkel geworden. Elke hat Tee gekocht, unter dem milden Licht der alten Stehlampe balgen sich die kleinen Katzen. Auf den ersten Blick sieht es aus wie in irgendeiner Land-WG: Bücher an den Wänden, Plakate, eine Gitarre, in der Bodenvase Getreide und Kornblumen, wäre da nicht der wirklich hierzulande undenkbare 50er-Jahre-Plattenspieler in der Ecke, auf dem eine zerkratzte Platte der „Deep Purple“ eiert.

„Kennt ihr das?“ fragt Alexander: „,DAS HÜTTENKOMBINAT RUFT DICH / DER TRAKTOR FORDERT DICH: SEI AUCH DU EIN KRAFTWERK!‘ Das ist von Johannes R. Becher. Ich habe mich immer angesprochen gefühlt, nee, im Ernst. Aber ich soll ja jetzt umlernen. Jetzt schau dir das an, ich hab' immer noch meine alten Turnschuhe an; statt Marke Puma, Marke Printstar, made in DDR. Die werde ich brauchen, wir haben ja nun neue Verhältnisse, und man sagt uns, daß das gesund und normal ist mit dem Konkurrenzkampf. So ist es eben im Schlaraffenland. Das Beste setzt sich durch, das Schlechte geht ein, und schlecht ist bei uns ja alles. Aber das macht nichts, denn wir haben ja nun die Freiheit, etwas aus unserem Leben zu machen ... aus unseren Betrieben ... in der Marktwirtschaft. Wir müssen nur kreativ sein, mutig, innovativ, zupackend, also mich erinnert das an unsere altgewohnten Parolen ,Schöpferische Umsetzung der Linie des XI. Parteitages‘.“

Elke lacht sehr und sagt fast belustigt: „Wir werden wohl beide bald arbeitslos. So sieht die schöpferische Umsetzung der Linie jetzt aus. Für die Gegend hier wird das ganz schön hart. Die Gemeinde ist auch fast pleite. Früher hatten wir hier auf jedem größeren Dorf eine Poststation, ein Landambulatorium mit Gemeindeschwester, einen Laden, ein Gasthaus. Das machen sie nun alles zu. Kein Geld. Die Löhne bei uns liegen für Landarbeiter zwischen 3,50 und 5 DM, wie sollen die Leute da hinkommen, wenn sie arbeitslos sind und, ich weiß nicht, wohl 65 Prozent noch kriegen? Für die Alten ist es besonders schlimm. Mutter zum Beispiel wird auch arbeitslos, die Küche soll am Ersten schließen, ich frag' mich, was wir dann unseren Kindern mittags geben sollen?“

Alexander lacht höhnisch: „Nichts, die sind ja dann zu Hause bei ihren arbeitslosen Muttis, die wiederum am Herd sind, an den die Frauen hingehören...“

„Stimmt ja“, sagt Elke, „irgendwie kann ich das alles immer noch nicht wirklich verstehen, wir lachen über alles, was soll man sonst machen?“

„Was mich wirklich traurig macht, da hör' ich dann zu lachen auf“, sagt Alexander, „ist diese eisige Kälte, die plötzlich zwischen den Leuten herrscht. Wir hatten hier in der Umgebung früher ein reges Leben, auch kulturell. Oben im Gut hatten wir den Rittersaal, da waren Theaterabende, Ausstellungen, Lesungen usw. Alles privat organisiert, die Leute kamen von Berlin hierher, man hat zusammengelegt für die Reisekosten, ein Plakat, ein bißchen Wein und Essen hinterher. Heute steht der ehemalige Besitzer hier und will alles restaurieren. Da macht keiner den Mund auf beim Gemeinderat, man kennt sich nicht mehr, keiner hat Zeit, Interesse oder gar Geld übrig. Ja, ich weiß es ja, Idealismus in der Marktwirtschaft ist idiotisch. Am besten, wir machen hier eine richtig primitive Subsistenzwirtschaft auf. Es kann ja nicht so schwer sein, vier bescheidene Leute zu ernähren.“

„Und den Franz!“ ergänzt Elke.

„Der will jetzt gerne zu uns ziehen. Er ist Kinderarzt und arbeitslos. Man hat ihm geraten, eine Praxis aufzumachen, den Kredit würden sie ihm sogar geben, aber er will nicht. Der hat zur mir gesagt, na, jetzt sind wir doch wieder wer, Herren im Haus, und können das rumänische Zigeunerpack und die anderen Ausländer vor die Tür setzen. Er hat das auch mitgekriegt, wie die Leute so reden. Das geteilte Deutschland hat die SED verschuldet. Daß es eine Folge des Nazi-Verbrechersystems ist, hält man hierzulande heute für eine Propagandalüge der alten Führung. Auschwitz ist kein Thema, nicht mal im sogenannten Einigungsvertrag. Dafür herrscht der blanke Haß zwischen den Leuten. Da geht es gegen Ausländer oder gegen alles Schwächere überhaupt. Insgeheim merken sie natürlich, daß man sie schon wieder mal übers Ohr gehauen hat, daß sie schuld sind, weil sie so blöd sind. Aber dann begeistern sie sich wieder für alles aus dem Westen, ducken sich vor den Vorgesetzten, dem Beamten im Arbeitsamt.

Hier kursiert so ein Spruch bei uns: ,Von der Sowjetunion lernen heißt kriechen lernen‘, ,siechen‘ hieß das mal auf sächsisch, eine der gängigsten Parolen, hing überall herum. Na ja, ein paar Witzchen entstehen ja ab und zu noch, wenn sie auch bitter gemeint sind. Mein Freund, der Franz, der war ja glühender Genosse, jetzt ist er direkt zynisch, sagt, na, Marx konnte auch nicht alles vorhersehen, ,Fakt ist jetzt: DER ÜBERGANG VOM SOZIALISMUS IN DEN KAPITALISMUS IST DIE STUFE AUF DEM WEG IN EINE SCHLECHTERE ZUKUNFT‘. Auf dieser Stufe stehen jetzt alle, und plötzlich schaudern selbst die zurück, die eben noch ,Wir sind ein Volk‘ gebrüllt haben. Und weil's zu spät ist, bekennen sie sich lieber alle schnell deutschnational, selbst die PDS...“

„Erzähl doch mal das mit dem Schweinemeister“, ruft Elke.

„Also, im Schweinemastbetrieb R. gab's neulich ein Blutbad. 8.000 Tiere, weit über der Schlachtreife, Enge, Gestank. Man füttert kleinste Rationen, um zu sparen, der Schlachthof verweigert die Annahme schon seit Monaten. Das Ergebnis ist Panik, Hunger, Aggression, Kannibalismus. Mittendrin steht der Schweinemeister, vormals strammer Parteigenosse, die Schweine wogen um ihn herum und brüllen. Da dreht er durch und läuft Amok, schlägt mit seiner Eisenstange zu, bis er nicht mehr kann. So sieht es aus bei uns.“

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