Zerbrechliche Stabilisierung

■ Li Peng vor dem Nationalen Volkskongreß der Volksrepublik China

Zerbrechliche Stabilisierung Li Peng vor dem Nationalen Volkskongreß der Volksrepublik China

Tritt ab, Li Peng, besänftige den Zorn des Volkes“ — Wer daran gewöhnt ist, chinesische Veröffentlichungen quer zu lesen, der konnte diesen Aufruf wenige Tage vor Eröffnung des diesjährigen Plenums des Nationalen Volkskongresses in der Überseeausgabe der 'Volkszeitung‘ finden; als versetztes Akrostichon verborgen im patriotischen Gedicht eines in den USA studierenden chinesischen Studenten. Während die Parteikontrolleure schreckensbleich versichern, sie könnten sich nicht erklären, wie es zu dieser Panne kam, gilt den demokratischen Intellektuellen die Veröffentlichung als Indiz, daß selbst im Allerheiligsten der Orthodoxie die Saboteure wühlen.

Doch der chinesische Ministerpräsident Li Peng, schon immer ungeliebt, aber seit dem Tiananmen-Massaker einer der meistgehaßten Männer des Regimes, denkt gar nicht daran abzutreten. Er posierte als selbstbewußter Staatsmann und verriet Genugtuung darüber, daß China nun wieder dabei ist, auf der internationalen Bühne seine ihm zukommende Rolle zu spielen — und dies nicht ohne Grund. Annäherung an die Sowjetunion, Ende der EG-Sanktionen, die baldige Reise des britischen Außenministers Hurd nach Peking — die chinesische Regierung kann sich ausrechnen, daß sie die internationale Empörung über die fortdauernde Repression in China und Tibet auf dem Polster realpolitischer Interessen aussitzen kann.

Anders als in den letzten Jahren vor der Niederschlagung der Demokratiebewegung, als die Delegierten des Nationalen Volkskongresses so offen wie nie zuvor das Plenum zur Kritik an Parteibeschlüssen, an verfehlter Planung und dem zu langsamen Voranschreiten der Reform nutzen konnten, ist dieses Mal wieder reine Akklamation angesagt. Die politische Projektion ins Jahr 2000, die Li Peng vortrug, ist einerseits zu verschwommen, andererseits zu widersprüchlich in sich selbst, als daß auf ihrer Basis eine rationale Diskussion zugelassen werden könnte. Ein weiteres Mal wird der Versuch unternommen, ökonomischen Reformen das Wort zu reden, gleichzeitig aber das politische System zu mumifizieren. Die chinesische Führung kann nicht neue ökonomische Sonderzonen planen, gleichzeitig aber darauf hoffen, die zentrifugalen Tendenzen der reicheren Provinzen unter Kontrolle zu halten. Sie gibt vor, die Marktwirtschaft zu forcieren, aber die maroden Staatsbetriebe sollen weiterhin — man weiß nicht, mit welchen Mitteln — am Leben erhalten werden. Kein rhythmisches Klatschen kann diese Widersprüche übertönen. Wie fragil die „kleine Stabilisierung“ nach dem Tiananmen- Massaker ist, zeigt sich daran, daß über den großen Abwesenden des Kongresses, Ex-Parteichef Zhao Ziyang, noch immer nicht das Urteil gefällt wurde. Nach wie vor ist er beurlaubt. Jutta Lietsch und Christian Semler