KAUFE !

Eine Ausstellung in London zur Geschichte der Modefotografie  ■ Von Thomas Langhoff

Shifting frocks“, antwortete David Bailey, als man ihn fragte, was denn sein Beruf wäre. Sein Beruf war Modefotograf, und er wurde dafür bezahlt, einen schmollippigen Mick Jagger mit Pelzkäppi und eine fragile Marianne Faithful vor stürmischem Wolkenhimmel zu fotografieren. David Baileys Aufnahmen hängen zur Zeit, den Modemagazinen entrissen, im Londoner „Victoria & Albert Museum“. Mit der Ausstellung Appearances: Modefotografie seit 1945 zeichnet das V&A die Ästhetik eines halben Jahrhunderts frock shifting nach.

Die Geschichte der Modefotografie liest sich wie eine Folge geheimer Tagebucheintragungen über ein gewagtes Dreiecksverhältnis — eine ungebührliche Liaison zwischen Kunst, Kommerz und Sex. „Das Endresultat der Modefotografie“, deklamiert der amerikanische Kunstkritiker Jonathan Greer, „ist nie Kunst, sondern nur steigende Umsätze plus wachsende Kommerzmacht.“ Und Ernestine Carter von der 'New York Times‘ zetert, daß die „Pornographie, nachdem sie sich schon in Film, Theater und Literatur breitgemacht hat, auch die Fotografie überrennt.“

Dieses Verdikt Carters steht am Anfang der siebziger Jahre und es markiert den Sprung vom heterosexuellen soft petting zum bisexuellen heavy sex. Dabei hatte alles, wie so oft, ganz harmlos angefangen, in den Jahren nach dem Krieg: eine die Augenaufschlagfrequenz erhöhende Aktivität der Wimpernmuskulatur, ein leichtes, die sekundären Geschlechtsmerkmale adressierendes Lächeln oder ein offensichtlich beabsichtigter unbeabsichtigter Hautkontakt. Die scheuschüchterne Nachkriegskunst des An-Ziehens findet ihren Widerhall auf den Seiten von 'Vogue‘ undd 'Harper's Bazaar‘.

In den späten Vierzigern verdrängt Richard Avedon mit skurrilen Szenarien den biederen Manierismus der Vorkriegszeit, seine Modelle posieren vor Elefanten und Gauklern. Zur gleichen Zeit reiht Irving Penn in rigider Balance seine Ensembles der Eleganz auf. Hinter der Kälte des Konstruierten und der Statik des Stillebens verbirgt sich eine ihrer gesellschaftlichen Grenzen bewußte Begierde.

„Ich habe stets geglaubt, daß wir Träume verkaufen — nie Kleider.“ Mit diesem Bekenntnis umreißt Irving Penn den neuen Geist, der sich nach dem Krieg in New York und Paris durchsetzt. Die Fotografen rücken den Fakt des Inszenierten in den Vordergrund: Der Blick gleitet ab von den Begierde erweckenden Hüllen, unschlüssig wandert er zwischen dem Dekor umher — und plötzlich sieht das Auge nicht mehr die sich an Taille und Hüfte schmiegende Seide, sondern die geschwungene Linie, die das Bild in zwei Hälften teilt.

Über-Ästhetik als Camouflage der Lust — die Kunst dominiert; mit den Kräften des Triebes wagt sie höchstens einen kurzen Flirt, mit dem Kommerz läßt sie sich ohne Scheu sehen. (Die Lebenssüchtigen der Nachkriegsjahre begrüßen die Konsumkultur als langersehnten Ausweg aus der Tristesse. Erst Ende der fünfziger Jahre entfachen die Kreuzritter des Anti-Amerikanismus den Kampf gegen die mittlerweile auf den Namen „Kommerz“ hörende Kauflust.)

Anfang der Sechziger steckt William Klein die Fronten zwischen seinem Job als Stoffverkäufer und seiner artistischen Berufung endgültig ab: „Mode?“ schimpft er, „Mode interessiert mich überhaupt nicht.“ Klein verzichtet auf die Vorbereitungstreffen mit den Modeberaterinnen — ihm zufolge „alte Damen mit dicken Brillengläsern“ — und überläßt dem Zufall das letze Wort in Sachen Komposition. Da passiert es schon mal, daß eine Vespa durch das Bild rollt oder von den flanierenden Modellen angelockte Männer am Bilddrand auftauchen.

Die Sixties-Fotografen verlassen ihre Studios und huldigen dem wiederentdeckten on the road-Mythos. Ronald Traeger läßt Twiggy grimassenziehend auf einer Art motorisiertem Fahrrad durch London rasen, und James Moore strandet in der amerikanischen Wüste: im rechten Vordergrund glitzert der Lack einer US-Karrosse, die Straße verschwimmt in der flirrenden Luft, über den Asphalt legen sich die langen Schatten eines späten und heißen Nachmittages. Die beiden Models lassen ihren Blick über die Weite des Landes gleiten, leicht verwirrt, als habe sie das Knipsen überrascht, als seien sie nur Statisten, angeheuert, um einem Antonioni-Film den letzten neorealistischen Schliff zu geben. „Ein raffiniertes Ensemble, graues Flanell, zu tragen bevor die Mantelsaison beginnt“ — die kleinen Lettern in der unteren Ecke der Doppelseite fallen kaum auf.

Die Modefotografie hat sich ihres kommerziellen Liebhabers entledigt, auf Wattewolken schwebend hält sie ihren neuen Fiancé, den Artisten, in ebenso zärtlicher wie platonischer Umarmung. (Die Fotoästhetik verträgt sich in keiner Weise mit dem damals herrschenden Grundgesetz des revolutionslüsternen Couture- Universums: Trage so wenig wie möglich, und das nur so oft wie nötig. Der Flirt mit der Kunst scheint stets mit Impotenz zu enden.)

Die Siebziger starten mit einer resoluten The Empire Strikes Back- Salve seitens des geschmähten Liebhabers: Das Frivole und Vulgäre übernimmt das Kommando. Die Modepostillen präsentieren laszive Gesten in Hotelfluren (Helmut Newton), gespreizte Schenkel in barocken Duschräumen (Deborah Turbeville) und vierzehnjährige Jungchen im Gekose mit nur leicht umgarnten Mätressen mittleren Alters (Chris von Wangenheim). Ernestine Carter lanciert einen Angriff gegen die „pornographische“ Verschwörung, und Deborah Turbeville stimuliert die hintersten Hirnkammern der Lust zu unwillkommener Tätigkeit — ihr Badetableau mit fünf Damen erinnert die 'Vogue‘-Kundschaft an drogensüchtige Lesbierinnen. Auf dem Zenit ihrer Liaison formiert sich die obszöne Dreifaltigkeit Kunst-Kommerz-Sex zum finalen Familienfoto: Der Sex hat sich jeglicher Tarnung entledigt, der Kommerz grüßt mit einem breiten und überaus ehrlichen Grinsen, und die Kunst schenkt dem professionellen frock shifter ein zynisches, aber nichtsdestotrotz freundliches Lachen. Der fröhlichen Dekadenz ist jedoch ein nur kurzes Leben gegönnt. Die Achtziger erleiden einen abrupten Rückfall in die Prüderie. Die Asche vergangener Sinnesgelüste gebiert nach einigen Jahren der Enthaltsamkeit eine bizarre Symbiose: Kunst, Kommerz und Sex führen drei verschiedene Identitäten einer einzigen manischen Domina vor, „Hedonismus“ geheißen. Diese Domina bietet ihre Dienste nicht mehr in den klassischen Séparées von 'Vogue‘ oder 'Harper's Bazaar‘ an, sondern in den sich offen kommerziell gebärenden Magazinen wie 'The Face‘ oder 'i'd‘. Beim Blättern durch die letzte 'i'd‘-Ausgabe stößt das Auge sowohl auf barbrüstige Heldenmänner in stromlinienförmigen Heldenposen als auch auf blasse Fettpolster und bläulich angelaufene Fleischstückchen. Sensible Hyper-Ästhetik und krasse Anti- Ästhetik: Alles ist erlaubt, solange das Ästhetische an und für sich den voyeuristischen Blick anzieht.

Der Akt des Konsumierens selbst erhebt den Anspruch auf einen Platz im Pantheon der Künste, die Instruktion „KAUFE!“ (und wirf weg) übertönt die klassische Order „Sei schön“. Man wirbt nicht mehr für Mode, sondern für Stil — und wenn es stilvoll ist, häßlich zu sein, dann verschwinden die Grenzen zwischen dem Häßlichen und dem Schönen.

Auf dem Titelbild der von André Breton herausgegeben 'Révolution Surréaliste‘ erscheint am 15. Juli 1925 das Foto einer haute madame im eleganten Ballkleid. Die Aufnahme war dem Modekatalog des Pariser „Pavillon d'Elegance“ entnommen. Zehn Jahre später, 1935, zieren „zwei große Schönheitsgeheimnisse“ die „Wrigley's“-Plakate: „Gehe wöchentlich in den Schönheitssalon und genieße täglich DOUBLE MINT GUM.“ Am linken Bildrand liegt eine gestürzte Venusbüste. Der Fotogaf beider Aufnahmen hieß Man Ray.

„Fotografie“, scherzte André Breton damals, „Fotografie ist keine Kunst.“ Modefotografie erst recht nicht — Modefotografie ist Sex und Kommerz. Also Kunst.

Die Ausstellung im Londoner Victoria & Albert Museum geht bis zum 28.April91.