INTERVIEW
: Vom Dritten Reich in den Gulag

■ Viele sowjetische Zwangsarbeiter des NS-Regimes wurden nach 1945 nach Sibirien verbannt. Eine Entschädigung haben sie nie erhalten.

„Die deutsche Seite weicht einer Erörterung dieser Frage nicht aus“, erklärte Gorbatschow jüngst in einem Interview auf die Frage nach Entschädigung an die vom Nazi-Regime verschleppten sowjetischen Zwangsarbeiter. Zweckoptimismus? Bisher haben sich jedenfalls alle Regierungen der Bundesrepublik geweigert zu zahlen. Nach dem Ende des Kalten Krieges steht das Thema nun erneut zur Debatte. Wir stellten Fragen an Ulrich Herbert, Autor des Buches „Fremdarbeiter. Politik und Praxis des ,Ausländer-Einsatzes‘ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches“.

taz: In den Verhandlungen mit Polen ist die Frage einer wenigstens symbolischen Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen nun doch ausgeklammert worden. In den Verhandlungen mit der Sowjetunion ist dieses Thema noch offen. Die Bundesregierung hat sich widersprüchlich geäußert. Wie viele Menschen sind in der Sowjetunion von einer möglichen Regelung oder Nichtregelung betroffen?

Ulrich Herbert: Es gibt keine genauen Zahlen. 1945 befanden sich etwa zwei Millionen zivile sowjetische Zwangsarbeiter in Deutschland und etwa 600.000 Kriegsgefangene. Die Zahl der sowjetischen KZ- Häftlinge ist nicht genau feststellbar, dürfte aber auch bei einigen hunderttausend gelegen haben. Nach Schätzungen der sowjetischen Gruppe „Memorial“ kann man davon ausgehen, daß eine bis anderthalb Millionen von diesen Menschen heute noch leben.

Wer sind die Leute, die sich in der Gruppe Memorial zusammengeschlossen haben? Was sind ihre Ziele?

Diese Gruppe hat sich mit Beginn der Gorbatschow-Ära gegründet, zunächst mit der Absicht, die in der Sowjetunion vergessenen Opfer des Stalinismus zu rehabilitieren, die Einzelschicksale und historischen Zusammenhänge zu rekonstruieren und sie ins Bewußtsein der sowjetischen Öffentlichkeit zu bringen. Außer der zentralen Gruppe in Moskau gibt es inzwischen Gruppen in den einzelnen Republiken.

Seit einigen Jahren beschäftigt sich Memorial auch mit einer bekannten Gruppe der Opfer des Stalinismus, nämlich mit den Menschen, die im Zweiten Weltkrieg als Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen nach Deutschland deportiert wurden.

Die Leute waren doch zunächst einmal die Opfer der nationalsozialistischen Kriegführung und nicht Opfer des Stalinismus...

Ja, aber sie wurden 1945 nach ihrer zwangsweisen Repatriierung einer scharfen Repression durch die stalinistischen Behörden unterzogen.

Wie sah das aus?

Das war lange Zeit völlig unbekannt — sowohl in Deutschland als auch in der Sowjetunion. Mittlerweile schält sich etwa folgendes Bild heraus: Nur diejenigen Zwangsarbeiter, die nachweisen konnten, daß sie in direktem Kontakt zu Widerstandsgruppen unter Führung der KPdSU gestanden hatten, konnten vor einer Verfolgung in der Sowjetunion sicher sein. Nach sowjetischem Militärgesetz galten diejenigen Soldaten, die den Deutschen als Kriegsgefangene in die Hände fielen, von vornherein als Vaterlandsverräter. Sie mußten mit Bestrafung rechnen. Die Kriegsgefangenen wußten das und versuchten daher vielfach, sich der Zwangsrepatriierung nach 1945 zu entziehen. Es stellt sich nun aber auch heraus, daß ein Großteil der zivilen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen nach ihrer Repatriierung in die Lager in Sibirien — also in den Gulag — eingesperrt worden sind, ein Teil in sogenannte Überprüfungslager und ein anderer Teil in die Verbannung geschickt wurde. Nach dem, was ich von den Vertretern von Memorial bisher und auch von sowjetischen Wissenschaftlern gehört habe, hat diese Verfolgung zumindest den überwiegenden Teil, wenn nicht nahezu alle diese Menschen betroffen. Dazu gehört natürlich auch, daß diese Menschen in der Sowjetunion bis heute nicht den Status von Kriegsteilnehmern haben, noch in irgendeiner Weise als Verfolgte anerkannt worden sind. Sie stehen im Geruch der Kollaboration.

Das gilt nach wie vor?

Ja. Erst in den letzten Jahren ist eben durch Memorial versucht worden, diese Stigmatisierung aufzuheben. Es ging und geht um eine politisch-moralische Rehabilitierung und dann auch um ihre Anerkennung als Kriegsteilnehmer, um ihnen eine bessere Rente zu verschaffen. Es geht bei diesem Thema auch um eine innersowjetische Entschädigung. Darüber ist bisher nie gesprochen worden. Die Sowjetunion hat in den vergangenen Jahrzehnten eben auch aus innenpolitischen Gründen nie mit der Bundesrepublik über die Entschädigung für ehemalige Zwangsarbeiter verhandelt.

Gibt es denn sowjetische Behörden oder Initiativen, die eine Vorstellung darüber haben, wie der Kontakt zu den Opfern der Deportation und Verschleppung hergestellt werden kann, und die — mit Namen und Adresse — sagen können: Das sind die Menschen, die jetzt Geld aus der Bundesrepublik brauchen?

Das ist schwierig, aber nicht unmöglich. Aber die Frage der Entschädigung von deutscher Seite ist ganz unabhängig von der innersowjetischen Auseinandersetzung um dieses Thema zu sehen. Tatsache ist, daß diese Menschen zum Zeitpunkt ihrer Verschleppung sehr jung waren, ihr Durchschnittsalter lag Ende des Krieges bei knapp 20 Jahren, und ihr ganzes weiteres Leben wurde durch die Zwangsdeportation nach Deutschland negativ geprägt.

Haben sich denn in den letzten Jahren in der Sowjetunion auch ehemalige Zwangsarbeiter selbst zu Wort gemeldet?

Ja, und zwar auf eine sehr aufschlußreiche Weise. Es hat nämlich von der „Heinrich-Böll-Stiftung“ und von Memorial den gemeinsamen Versuch gegeben, das Schicksal der sowjetischen Zwangsarbeiter vor und nach 1945 aufzuhellen. In diesem Zusammenhang veröffentlichte Memorial vor etwa eineinhalb Jahren in verschiedenen Zeitungen einen Aufruf, der die Betroffenen aufforderte, sich bei Memorial zu melden. Der Aufruf enthielt eine absurde, aber doch sehr folgenreiche Fehlinformation, nämlich die, daß die westdeutsche Partei Die Grünen möglicherweise bereit sei, Entschädigungen zu bezahlen. Das führte dazu, daß sich zunächst Zehntausende, dann Hunderttausende von Menschen schriftlich bei Memorial meldeten. Die Briefe dokumentieren unzählige Einzelschicksale, sie sind in der vagen Hoffnung auf Entschädigung geschrieben.

Der Vorteil, der in diesem kleinen Mißverständnis liegt, ist doch, daß die Bundesregierung nun die Adresse derjenigen haben könnte, die einen Entschädigungsanspruch haben.

Das ist richtig. Aber das ist ja nicht das Problem. Alle Bundesregierungen haben sich bisher — und zwar unabhängig von ihrer parteipolitischen Zusammensetzung — geweigert, für Zwangsarbeiter Entschädigungszahlungen zu leisten. Ausdrücklich wurde immer betont, das könne nur über Reparationszahlungen nach einem Friedensvertrag geschehen. Rechtlich gestützt ist diese Position durch das Londoner Schuldenabkommen von 1953.

Der Friedensvertrag ist faktisch da. Die Ansprüche einzelner Menschen werden sicher gerne zwischen den Regierungen pauschal verdealt — Stichwort: „Schuldenerlaß“. Wie könnte man erreichen, daß solche Gelder den einzelnen Menschen, die unter dem nationalsozialistischen Krieg und seinen Folgen gelitten haben, wirklich zugute kommen?

Das ist angesichts der Verhältnisse in der Sowjetunion in jedem Fall schwierig. Hier gibt es allerdings Wege, die seinerzeit Antje Vollmer vorgeschlagen hat, etwa mit Hilfe einer Stiftung oder durch das Internationale Rote Kreuz eine direkte Auszahlung der Gelder an die ehemals nach Deutschland verschleppten sowjetischen Bürger und Bürgerinnen sicherzustellen. Interview: Götz Aly