Stalin als Filmemacher

Zu einer Stalin-Film-Retrospektive in München  ■ Von Oksana Bulgakowa

Mach es wie ich“, riet Michail Tschiaureli, der Hofregisseur des Kremls, einst seinem Freund Alexander Dowshenko. „Drehe, was du willst, nur streue ab und zu hier ein Hämmerchen, da ein Sichelchen oder Sternchen ein...“ Waren es wirklich nur Ornamente? Was blieb, wenn sie aus den Filmen herausgeschnitten wurden?

Boris Groys, ein in Deutschland lebender russischer Emigrant, veröffentlichte vor zwei Jahren ein Buch, das Stalin als konsequenten Avantgardisten darstellte: Er habe das Programm der russischen Avantgarde, Leben als Kunst zu organisieren, zur Realität gemacht, wenn auch nicht ganz so, wie es die Utopisten sich vorstellten. Den Titel dieses Buches, Stalin als Gesamtkunstwerk, übernahm Enno Patalas für eine Retrospektive des Münchner Filmmuseums. Die Kopien kamen aus Belgrad, Prag und Sofia, aus Moskau und Berlin, Köln und Lausanne. Die Suche nach ihren Spuren ist abenteuerlich, denn Stalin-Kunst ist ein Tabu. So sind etwa die vollständigen Kopien von Lenin-Filmen, von Verteidigung Zarizyns, Der Mann mit dem Gewehr oder Jakow Swerdlow, nicht mehr auffindbar. Und Der Fall von Berlin wurde in meiner Filmhochschulzeit in einer 16-mm- Schwarzweiß-Raubkopie gezeigt — als etwas streng Geheimes.

Mein Mann wuchs in der ehemaligen Berliner Stalinallee auf und erzählte, wie sich dort eines Morgens zur Freude aller Kinder plötzlich ein riesiger Sandhaufen fand. Beim Spiel gruben sie aus dem Sand eine Riesennase aus: der umgelegte Namensgeber der Straße konnte nicht ohne weiteres über Nacht abtransportiert werden und wurde so kinderfreundlich kaschiert.

Parallel zu diesen Vergrabungsarbeiten wurden auch die Filme „entstalinisiert“, das heißt geschnitten, in Handarbeit (Bild für Bild) retuschiert und mit viel Aufwand und Phantasie „umgestaltet“. Die Mitarbeiter des Münchner Filmmuseums haben die verschiedenen Filmkopien verglichen: Der georgische Schnurrbart wird von einer in der Luft hängenden Tischlampe (einkopiert als Maske) verdeckt oder durch einen breiten Rücken kaschiert. Doch diese mühevolle Operation zur Beseitigung der „Ornamentik“ änderte wenig an den Filmen. Die Macher haben es geschafft, eine Filmwelt zu etablieren, die wie ein vorkopernikanisches Sonnensystem organisiert ist: mit einem unbestrittenen Zentrum, von dem alles abhängt — Stalin. Er kreiert das Schicksal der Welt und das jedes einzelnen.

Groys zufolge flößte diese Kunst damals Angst und Schrecken ein: Jedes falsch interpretierte Wort oder Zeichen konnte dem Produzenten oder Rezipienten den Tod bringen. Heute sei der heilige Horror weg und damit die Zauberkraft der Bilder— sie seien nur noch trivial. Wenn dem so ist, warum muß man die Filme dann noch immer verstecken? Das erschreckende Paradox: Stalin ist zwar auf den Bildern getilgt, doch seine Weltvision blieb noch nach seinem Tode prägend. Die Kunstnorm, wie er sie etabliert hatte, blieb gültig und überlebte gar den Niedergang einer „real existierenden Welt“. Seinen Platz nahmen die unbeirrbare Partei und viele kleine Stalins vor Ort ein. Man verbannte die Filme, um nicht in den Spiegel sehen zu müssen.

Das Wort, das in den Kunstanalysen der Zeit am häufigsten auftaucht, ist Realismus. Nachahmung bedeutet hier jedoch nicht Abbild, sondern Inszenierung einer Traumwelt, deren Schöpfer Stalin war: als Auftraggeber, Zensor, Mitautor, erster Zuschauer und Cutter. Die Überlieferungen zu seiner Filmarbeit sind metaphorisch und traumatisch. Zur Abnahme wurden die Filme häufig nachts in den Kreml gefahren. Wenn eine Filmbüchse in zitternder Eile vergessen wurde, lief der Film für immer ohne diesen Teil; so geschah es mit Eisensteins Alexander Newski.

Die Traumwelt eliminiert die Zeit. Die nachgestellte Vergangenheit wird um(ge)schrieben und alle paar Jahre korrigiert: In Das unvergeßliche Jahr 1919 fährt Stalin den Panzerzug von Trotzki, bei Romm organisiert Bucharin 1918 das Attentat auf Lenin, und Churchill ist der Drahtzieher des Kronstädter Aufstandes! Die inszenierte Historie wurde eine Art Sakralkunst: Immer wieder wurde filmisch die Revolution nachgestellt — zunächst in Schwarzweiß, dann mit Ton, Farbe und in Cinemascope: als kommemorative Handlung, sozialistische Dionysien. Die Kunst der Stalin-Zeit hat viel mit Magie zu tun. Sie beschwört nicht nur mythische Rituale herauf (Verbrennung von Porträts — stellvertretend für die Feinde), sondern zielt auf die totale Automatisierung von Bewußtseinsvorgängen: Losungen sollen „bis zur Bewußtlosigkeit“ eingehämmert werden.

Das Wiegenlied (1937) von Dsiga Wertow ist ein ideales Beispiel für solch eine magische Beschwörung. Der Film ist rhythmisch perfekt organisiert: den Rhythmus erzeugen die Wiederholungen einer Aufnahme (ein Kind in leicht schwingender Hängematte) und dieselbe pendelnde Bewegung im Bild, zuzüglich eines sich wiederholenden Textes. Nicht das Filmkind, sondern der Zuschauer wird durch die visuelle und auditive Wiederkehr eingeschläfert, deren prägnanter Rhythmus ihn in einen Trancezustand versetzt. Der Zuschauer wacht auf, wenn — zehn Minuten vor Schluß — sowjetische Militärtechnik auf ihn zurollt. Davor beherrschten Mütter und Kinder die Welt, in der es nur einen Mann gibt, der sie alle glücklich macht: Stalin.

Eben dieser akzeptierte diesen seltsamen Film jedoch nicht, und auch die Kritiker versuchen heute, dem Wiegenlied eine Ironie nachzuweisen. Der Film jedoch ist nicht ironisch, Wertow hat sich nur in den Fruchtbarkeitsmythologien verirrt und den Vater aller Völker zu sinnlich, zu buchstäblich — für seine symbolische unsinnliche Zeit — interpretiert.

Auch das materielle Leben der einfachen Sterblichen wird idealisiert: Stachanow stellt Weltrekorde in der Produktivität ohne zusätzliche Technik auf, Lyssenko verwandelt eine Pflanzenart in eine andere. Die Bolschewiken können sogar die Widerstandskraft des Materials verändern: Die Brücke aus Holz in Verteidigung Zarizyns konnte nach der Meinung eines Ingenieurs die Last des Panzerkreuzers gar nicht tragen. Aber sie trägt! Wie es der Kommissar vorausgesagt hatte... Andrej Platonow glaubte ernsthaft, daß die neue Macht nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Natur nach ihrem Willen verändern kann. Wenn sogar die Geschichte „gemäß der siegreichen Lehre von Marx, Engels, Lenin und Stalin“ verläuft, warum kann dann der Jenissej nicht auch in eine andere Richtung fließen?

Der Glaube an die Omnipotenz personifizierter Macht prägte das Heldenverständnis im Film: Weder Freund noch Feind sind real motiviert. Beide haben übermenschliche Energie. Die Helden sind bereit, das ganze Leben umzuwandeln — die Feinde wollen die ganze Arbeiterklasse vergiften.

Lenin tritt in den Filmen als nervös wuselnde Clownfigur auf. Stalin dagegen wirkt monolithisch: hat das letzte Wort und trifft die Schlußentscheidungen, selbst in der Rolle eines bescheidenen Lenin-Schülers. Im Großen Feuerschein (Tschiaureli/1938) verbindet er das kleine Glück (russische Schönheit und ein Georgier) mit dem großen (Oktobersieg), den kleinen Feuerschein (das Mädchen heißt Swetlana: Leuchtkäferchen, wie Stalins Tochter) mit dem großen (Revolution). Das Mädchen führt den Georgier zu Stalin, in die Redaktion der 'Prawda‘, das heißt zur Wahrheit. Stalin führt den Georgier zu Lenin, und Lenin überzeugt die Mutter von der Heirat ihrer Tochter mit dem Georgier. Auf diese Weise hängt alles mit allem zusammen, und die hölzerne Metaphorik bebildert die mechanische Dialektik.

Stalin spielt im Leben jedes Sterblichen eine bestimmende Rolle. In Tschkalow von Michail Kalatosow (1941) sorgt er nicht nur für das historische Schicksal eines Fliegers (für seinen Weltruhm durch den Nordpolüberflug), sondern ihm gelingt, was weder die Geliebte noch der väterliche Kommandeur, weder das Kind noch gar Lebensgefahren vollbracht haben: Er krempelt den Helden in einem kurzen Gespräch so heftig um, daß Tschkalow sein ganzes Leben noch einmal Revue passieren lassen muß, weil erst Stalin ihn dessen höheren Sinn erkennen ließ. Früher, in der christlichen Vita, hieß das Erleuchtung.

Je älter Stalin wurde, desto jünger sah er in den Filmen aus, zuletzt im Unvergeßlichen Jahr 1919 von 1952 nach dem Stück von Wischnewschki. Für 1953 wurde ein Zweiteiler über die jungen Jahre geplant, doch plötzlich mußten die vier Regisseure einen 90minütigen Film über sein Begräbnis erstellen: Der große Abschied wurde jedoch nicht aufgeführt, da Berija, zu dieser Zeit bereits zum Spion in gleich mehreren Diensten erklärt, aus der Kopie nicht zu tilgen war. Das Münchner Filmmuseum bekam diesen nie aufgeführten Film auch 38 Jahre später nicht.

Michail Tschiaureli spielte einmal seinen Freund Berija — in Der Schwur. Der Freundschaftsdienst ging dem Gönner zu weit: Auf sein Geheiß wurde umbesetzt. Später war Tschiaureli der einzige Regisseur, der sich für sein Schaffen vor einer Kommission zu verantworten hatte und beinahe aus der Partei flog. Ihm half nur aufrichtige Reue. Doch er war von nun an „blacklisted“ und wurde hinter den Ural geschickt: in das Swerdlowsker Studio. Sofia Giazintowa, die in seinen Filmen mitgespielt hatte, mußte vor der Kommission aussagen. Sie meinte, daß Tschiaureli ein großer Künstler sei, und hätten die Kritiker ihn nicht falsch interpretiert und gelenkt (Eisenstein schrieb so euphorische Rezensionen auf seine Filme, daß man sie heute nur noch als verdeckte Ironie lesen kann), so würde er noch viele große Werke schaffen. Er drehte noch einige Spielfilme. Und in den letzten Lebensjahren widmete er sich ganz der Animation. Sein Film Wie die Mäuse den Kater begruben wurde als zu deutliche Allegorie auf bekannte Ereignisse gesehen und verboten. Fünf Jahre nach Tschiaurelis Tod wurde in Georgien ihm zu Ehren ein Museum eröffnet, und die Zeitungsmeldung darüber war mit „Tag der Volksliebe“ überschrieben. Das war 1982. Ein Jahr später spielte Tschiaurelis Frau in der Stalin-Parabel Die Reue ihre letzte Rolle, eine alte Lagerinsassin, die die Kardinalfrage stellt: Kann eine Straße, die den Namen eines Tyrannen trägt, zur Kathedrale führen?