: Russische Polizisten ratlos
Moskaus Innenstadt glich einem Heerlager/ Außerordentlicher Kongreß der Volksdeputierten Rußlands weist Eingriffe des Zentrums mit Mehrheit zurück/ Weitere Niederlage für Gorbatschow ■ Aus Moskau K.-H. Donath
„Jetzt schicken sie schon unsere eigenen Kinder auf uns los. Erst hetzten sie sie gegen die anderen Völker und nun sogar gegen die Russen“, schluchzte eine Frau mit tränenerstickter Stimme. Sie stand in einer kleinen Seitenstraße, die von Militärlastwagen völlig blockiert war. In den Autos hockten junge Männer zwischen 18 und 25 Jahren. Regungslos. Um 18 Uhr sollte auf dem Moskauer Manegeplatz vor dem heiligen Boden des Kremls eine Demonstration stattfinden. Gegen 17 Uhr war aber in der Innenstadt kein Durchkommen mehr. In Blitzesschnelle hatten Spezialeinheiten des Innenministeriums, des KGB und die Moskauer Polizei sämtliche Zufahrtsstraßen verrammelt. Die Moskauer „Flaniermeile“, die Twerskaja, war zwischen dem Puschkinplatz und dem Zentrum durch schweres Militärgerät gevierteilt worden. Das sowjetische Innenministerium sprach von 50.000 mobilisierten Uniformträgern.
Vielleicht etwas mehr als 1.000 Demonstranten hatten es trotzdem geschafft, sich zum Manegeplatz durchzuschlagen. Punkt halb sechs forderte ein Polizeihäuptling das auf dem riesigen Vorplatz des Kremls demonstrierende Häuflein auf, sich aus dem Staub zu machen. Sekunden später rückte eine mit Metallschilden klirrende Phalanx der berüchtigten Spezialtruppe „OMON“ an, wie in einem Römerschinken. Sie hatte im Baltikum ihr Unwesen getrieben. Und keiner, auch das sowjetische Innenministerium nicht, wollte damals dafür offiziell Verantwortung übernehmen. Aber in Moskau konnte man offenkundig auch diesmal auf ihre effizienten Dienste nicht verzichten. Sie alle waren blutjung. Ältere Frauen, die sie vor sich hertrieben, schrien sie an: „Was macht ihr da, man hat euch doch gedopt“. Sie rückten weiter vor, ohne ihren Schritt zu ändern. Ob alt oder jung, alle Demonstranten mußten über die Barrikaden klettern. Doch die OMONs schlugen nicht zu. Sie schafften „Ordnung“.
Anders als noch bei den vorangegangenen Massenmeetings waren die Menschen diesmal entschlossen zu kämpfen. Angst zeigten sie keine. Das Klima hat sich verändert. Das zeigte auch die Bereitschaft vieler Tausender Moskauer, trotz Verbots noch an anderen Stellen der Stadt zu Kundgebungen zusammenzukommen. Zwar ist es Gorbatschows Erfüllungsgehilfen gelungen, die Sympathiekundgebung für seinen Rivalen Boris Jelzin zu vereiteln. Doch dieser Erfolg ist nicht einmal ein Pyrrhussieg. Selbst KP-Mitglieder distanzierten sich von der sinnlosen Aktion. Das Zentrum hat sich in den Augen vieler endgültig diskreditiert. Es geht ihm nur noch um den nackten Machterhalt. Und Gorbatschow hat seinem Widersacher Jelzin, der zwischenzeitlich in der Gunst des Volkes an Popularität verloren hatte, zu einem weiteren Triumph verholfen.
Am Vormittag hatte der russische Kongreß der Volksdeputierten seine außerordentliche Sitzung eröffnet, die sich in erster Linie mit dem „Fall Jelzin“ beschäftigen sollte. Zur Vorgeschichte: In einem Fernsehauftritt im Februar hatte Jelzin Gorbatschow sein Vertrauen aufgekündigt und ihm vorgeworfen, das Volk in die Irre zu führen. Tags darauf verabschiedete der Oberste Sowjet eine Anti-Jelzin- Resolution, und konservative Volksdeputierte beriefen einen Sonderkongreß ein, mit dem alleinigen Ziel, Jelzin durch ein Mißtrauensvotum zu Fall zu bringen. Im Volksdeputiertenkongreß verfügt der charismatische Populist über eine nur hauchdünne Mehrheit. Die Zentrale machte daraufhin nur Fehler. Das Allunionsreferendum münzte sie in einen Wahlkampf zwischen Gorbatschow und Jelzin um. Jelzin ging daraus als strahlender Sieger hervor und erhielt ein deutliches Votum für die Wahl zum Präsidenten Rußlands. Nun kann es auch der Volksdeputiertenkongreß nicht mehr wagen, den einzigen Hoffnungsträger zu entmachten. Die Gorbatschow-Regierung unter ihrem Premier Pawlow, dem Mann fürs Grobe, reagierte panikartig. Mit Erlassen versuchte sie, die massive Unterstützung der Straße zu verhindern, und griff dabei rücksichtslos in die Kompetenzen der Russischen Föderation und des Moskauer Stadtsowjets ein. Gorbatschow ging sogar so weit, noch am Dienstag per Ukas einen neuen Moskauer Polizeichef zu ernennen und die hauptstädtische Polizei direkt dem Innenministerium zu unterstellen. Wie wenig er sich damit Freunde geschaffen hat, zeigte die Demonstration. Viele Polizisten beklagten, sie wüßten nicht mehr, wem sie eigentlich gehorchen sollten. „Drei Vorgesetzte geben uns jetzt parallel Anweisungen“, maulte ein Polizist, der sich an einer Absperrung am Roten Platz mit Bürgern diskutiert hatte. Die Verfassungsmäßigkeit ihres Vorgehens kümmerte die Regierung dabei wenig.
Der Volkskongreß befaßte sich denn in seiner Eröffnungssitzung gar nicht mehr mit der Frage des Mißtrauensvotums. Statt dessen stimmten 532 gegen 280 Abgeordnete für eine Resolution, die die Gorbatschowschen Übergriffe verurteilte und einen sofortigen Rückzug des Militärs aus Moskaus Straßen verlangte. Jelzin braucht eine Abwahl nicht zu befürchten. Im Gegenteil, ihm bleibt genügend Zeit, seine Wahl zum Präsidenten Rußlands einzuleiten. Das wäre das endgültige Aus für Gorbatschow. Seine Reputation kann dieser nur dadurch zurückgewinnen, daß er sich als ein fairer Verlierer erweist und sich ohne Gewalt zurückzieht. Die einzige politische Handlung Gorbatschows in letzter Zeit, die kein Fehler gewesen ist, war die Anordnung, auf Blutvergießen zu verzichten.
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