Der Stoff, aus dem die Träume sind ...

Shakespeares „Sturm“ am Hamburger Schauspielhaus und am Theater am Leibnizplatz der Bremer Shakespeare Company  ■ Von Lore Kleinert

Warten wir auf den Sturm wie auf Godot: Ein alter Mann hockt auf einem Trümmerthron unter metallenem Gestänge und Röhren, die den ganzen Raum von oben her begrenzen und hin und wieder Rauchwolken und Nebelschwaden ausstoßen. Am fernen Horizont erstreckt sich die Silhouette einer Fabrik, davor das ausgebrannte Wrack eines Autos, halbversunkene Ölfässer, eine riesige Betonröhre. Ein Trümmerkind mit verhülltem Haar leistet ihm beim Mahl aus dem Blechnapf Gesellschaft, eine Bande Jugendlicher zieht mit dem Ghettoblaster über die Bühne, und noch immer ist es hell im Theater. Quälend lange dauert es, bis der Alte im schwarzen Mantel sich erhebt, aus dem dumpfen Grummeln dröhnender Lärm wird und Blitzlichter zucken. Der Sturm, mit dem Shakespeares Stück beginnt und der alte Feinde auf Prosperos Insel wirft, hier erscheint er als Nachbeben der Katastrophe, die die Welt längst leergefegt hat.

Dieser Prospero — Ulrich Wildgruber spielt ihn in Michael Bogdanovs Sturm am Hamburger Schauspielhaus — hat alle Stürme hinter sich. Noch einmal scheint er aus seiner Endzeit-Lethargie zu erwachen, um die Geschichte, seine Geschichte, im Traum noch einmal zum Leben zu erwecken. Diese lange Anfangssequenz auf der weit vorgezogenen Bühne taucht Shakespeares Märchenspiel um Macht und Magie, Rache und Vergebung, in ein befremdliches Licht: Da alle Aktionen auch Gebilde bloßer Erinnerung sein könnten, schwingt in den Versen ungeahnte Traurigkeit mit und ein Wissen, mit dem die Überlebenden allein sein werden. „Die Höll' ist leer und alle Teufel hier“ — damit wird nicht so sehr das erwartete Gaukelspiel der Sinne prophezeit als der Ausbruch aller Geister, die der Mensch selbst schuf und nicht mehr los wird. Gezaubert wird dennoch: Luftgeist Ariel, ein weißköpfiges Wesen, zieht seine Bahn über die Bühne wie im Traum und verwirrt als Diener Prosperos die gestrandete Adelsgesellschaft ebenso wie die angetrunkenen Diener im Kellner-Outfit. Doch das, was sonst so wichtig ist im Sturm, die Machtkämpfe von Adel, Volk und Geisterwesen mit all ihren boshaften Facetten, ihren vielfachen Herr-Knecht-Spiegelungen, inszeniert vom geisterbeherrschenden Inselherrn Prospero, bleibt hier seltsam fern.

Prosperos erinnernder Blick auf die Vorgeschichte der Katastrophe hat uns gefangengenommen. Die Gegenwart der Zivilisationstrümmer ist zu mächtig, als daß sich die Intrigen und Spielereien gegen sie behaupten könnten. Immer wenn Prospero präsent ist, wenn Ulrich Wildgruber ihn lakonisch und leicht in seine eigene Geschichte eintauchen läßt, immer tiefer, wächst die Spannung, weil sie aus der Qual dessen lebt, der das Ende schon kennt und dagegen anzaubert. Der „lachende Waliser“, der von vielen Kritikern so ungeliebte Michael Bogdanov, geht mit dieser mutigen und bitterernsten Sicht des Stückes das Risiko ein, daß die Schiffbrüchigen der Insel zu bloßen Umrißzeichnungen verblassen. Das läßt uns zwar begreifen, warum die Mächtigen und die Dienenden gleichermaßen zu Schatten werden, doch wird auch das Interesse an ihnen stark herabgesetzt. Doch das geschieht selten, da die SchauspielerInnen, fast immer von Musik eingehüllt, die Schemen der Erinnerung glänzend spielen: den nackten Wilden Caliban (Christian Redl), der sich so dringend einem neuen Herrn unterwerfen möchte, oder auch den Prinzen Ferdinand (Ingo Hülsmann), dem Prosperos schöne Tochter planmäßig zugeführt wird. Wenn er sie hinterhältig fragt, ob sie noch Jungfrau sei, erstarrt für einen winzigen Augenblick alles, so unverschämt deutlich erscheint die von den Versen vielbeschworene Liebe als Lüge, als Trugbild, wie das von farbigen Göttinnen zelebrierte Erntedankfest oder wie die schwarzen und weißen Gespenster, die Prosperos untreue Verwandtschaft umgaukeln. Fast beiläufig entläßt Prospero am Ende seine Geschöpfe, und sie schlüpfen zurück in die Betonröhre, aus der sie unter Nebelschwaden krochen. Was bleibt? Nur der Applaus kann Prospero aus seiner Hölle erlösen, und man ist froh, wenn wirklich geklatscht wird und Ulrich Wildgruber doch noch eine kleine weiße Taube aus dem Ärmel zaubert.

Beifall gab es auch für den Sturm der Bremer Shakespeare Company gut eine Woche zuvor, doch das ist fast schon alles, was beide Inszenierungen verbindet. Im Zentrum stand hier unzweifelhaft Ariel, der Luftgeist als Frau, der ihr Herr ebenso gierig nachstellt wie seiner eigenen Tochter. Ganz in Weiß und mit kleinem Zopf streichelt sie ihren Herrn mit grünbehandschuhten Händen und muß sich die versprochene Freiheit sauer verdienen, mit immer neuen Zauberkunststückchen. Ariela Ruchti, eines der neuen Mitglieder der Company, läßt sich ganz ein auf die riskante Gratwanderung zwischen wirklicher Zuneigung zum Manne Prospero, der Unerlöstheit eines Geschöpfes aus dem Zwischenreich und spielerisch-kindlicher Grazie, wenn sie Hofgesellschaft und Rüpelhorde entfesselt und bannt.

Wie immer ist auch diese Inszenierung wieder mit vielen aktuellen Anspielungen gewürzt, doch wird man den Verdacht nicht los, daß dieser Prospero weder über Magie noch ausreichend Verstand verfügt, „ohne Geister und ohne Kunst“ daherkommt, um anderes als einen bunten Bilderbogen vieler kleiner Geschichten zu erschaffen. Auch das sei unterhaltsam, und ein kleines „Volkstheater“ könne keinen Ulrich Wildgruber ins Zentrum rücken, argumentiere ich gegen die Langeweile, die mich erfaßte. Überraschend ist dennoch, um wieviel politischer, mutiger und zeitgemäßer die Inszenierung am Hamburger Schauspielhaus war, die sogar darauf verzichtete, in Staatstheatermanier das Bühnenbild zum Tanzen zu bringen. Der „Stoff, aus dem die Träume sind“ (Prospero) wurde in Bremen mehr oder weniger nett und beliebig bebildert. Bogdanovs Sturm in Hamburg hat diese Sätze der Nutzung als Bestsellertitel und ähnlichem wieder entrissen.

William Shakespeare: Der Sturm.

Regie: Michael Bogdanov. Bühne: Chris Dyer. Mit Ulrich Wildgruber, Christian Redl, Andrea Bürgin, Ingo Hülsmann. Schauspielhaus Hamburg. Nächste Aufführungen: 10., 11., 19.April.

Regie: Reiner Iwersen. Bühne: Heike Neugebauer. Mit Ariela Ruchti, Rudolf Höhn, Christian Kaiser. Bremer Shakespeare Company. Weitere Aufführungen: nicht vor Ende April.