Leben unter 40 Tagen Ausgangssperre

In dem von Israel besetzten Gaza-Streifen ist die Ausnahmesituation der Normalzustand/ Während des Golfkriegs versuchten die Palästinenser, auch ihre Blechdachhütten notdürftig gegen Giftgas abzudichten  ■ Aus Gaza Qassem Gidram

Eine ganz normale Geschichte vom Leben unter mehr als 40 Tagen Ausgangssperre sollte sie erzählen, die 15köpfige palästinensische Familie, die vorsichtig die angerostete Blechtür zu ihrem Haus in einem Vorort von Gaza öffnet. Warum ein Journalist gerade ihre Geschichte hören will, versteht die Familie Abdallah (Name von der Redaktion geändert) nicht so ganz. Erst langsam beginnen sie zu erzählen, als ein gutes Dutzend Menschen sich auf den Matratzen am Boden niederläßt, die eines der wenigen Möbelstücke in dem karg bestückten Haus darstellen.

Wenige Tage vor dem Golfkrieg hatte sie sich wie alle Familien im Viertel auf alle Eventualitäten vorbereitet. Damals habe sie vor allem trockene Linsen und Bohnen als Vorräte gekauft, erinnert sich die Mutter Fatma. Im israelischen Fernsehen hatten sie die Bilder vom Verteilen der Gasmasken und abgedichteten Räumen gesehen. „Natürlich hatten auch wir furchtbare Angst vor einem Gasangriff“, erklärt Muhammad, der Vater, der mit seinen 53 Jahren eigentlich eher um 20 Jahre älter aussieht. „In unserer Verzweiflung haben wir uns eigene Gasmasken gemacht, aus Stoff und mit zerriebener Kohle, von der wir gehört hatten, daß sie wie ein Filter wirkt“, beschreibt Aische, eine der Töchter mit einem immer noch hilflosen Lächeln auf den Lippen. Der Vater deutet auf das zum Teil durchlöcherte Wellblechdach, durch das es regnet. Sie hätten gewußt, daß das mit diesem Dach eigentlich keinen Sinn mache, so erzählt er, trotzdem hätten sie die Fenster mit Plastikfolie abgedichtet. Unter die Tür hätten sie mit Backpulver bestreute nasse Tücher gelegt — eine Methode, die sich im Viertel herumgesprochen hatte. Nachbarn mit einem „richtigen Dach“ hatten Familie Abdallah angeboten, bei ihnen zu wohnen. „Doch unsere vier Räume sind schon für uns 15 Personen viel zu eng“, lacht Fatma.

Schon bald nach den ersten Tagen Ausgangssperre gingen die frischen Vorräte aus und selbst die Bohnen und Linsen mußten rationiert werden. Während die Männer die gesamten 46 Tage im Haus bleiben mußten, wurde den Frauen nach einer Woche Ausgangssperre erlaubt, alle vier Tage das Haus für einige Stunden zum Einkaufen zu verlassen. Am Markt ging es chaotisch zu, schildert Aische. Das Gemüse war von der langen Lagerung meist schon verrottet, und trotzdem war es sofort ausverkauft. Für die Einkaufszeit der Frauen gab es keine Garantie, oft brach das Militär sie auch frühzeitig ab. Dann fuhren israelische Soldaten mit Lautsprechern durch die Straßen und verkündeten, daß diejenigen, die die Ausgangssperre brechen würden, ihr Leben riskierten.

„Wie erklärt man seinen Kindern, was eine Ausgangssperre ist?“

Mit den Kindern sei es besonders schwer gewesen, stimmten sie alle überein. Sie hätten an der Tür gestanden, durch den Spalt auf die Straße geschaut und wollten raus. „Wie erklärt man seinen Kindern, was eine Ausgangssperre ist?“, fragt Muhammad mit einer Geste, die zeigt, daß er noch immer keine Antwort weiß.

Es waren auch die Kinder, die sie über die Mauern zu den Nachbarn geschickt haben, um gegenseitig benötigte Sachen auszutauschen. Die Solidarität war groß, verkünden sie mit Stolz. Die mit etwas mehr Geld hätten den anderen ausgeholfen, und die wenigen mit Telefonen hätten den Kontakt zur Außenwelt aufrechterhalten.

Doch das schlimmste sei die ständige Angst vor der Armee gewesen, sagt der Vater und erzählt — noch immer sichtlich aufgewühlt — von seinen eigenen Erfahrungen mit den israelischen Soldaten während der Ausgangssperre. „Ich stand in unserem Vorgarten, hinter der Mauer zur Straße“, beginnt er. „Eine auf der Straße entlangfahrende Patrouille schrie über die Mauer, daß es verboten sei, im Vorgarten zu stehen.“ Ohne Vorwarnung stürzten sie dann in das Haus und nahmen seinen 26jährigen Sohn mit. „Als ich fragte, was er denn getan habe, bekam ich keine Antwort“, erzählt Muhammad. Später hieß es offiziell, er habe einen Soldaten angegriffen.

Drei Tage danach erschien dieselbe Patrouille erneut im Haus der Familie Abdallah. Damals hätten sie den Vater verprügelt und eine der Töchter zu Boden geworfen und auf sie eingeschlagen. „Saddam ist tot“, habe der Offizier dabei geschrien. „Wir hatten schreckliche Angst“, erinnert sich der Vater. Und als müsse er das Unglaubliche beweisen, zeigt er mir seine ausgeschlagenen Zähne und die Blutflecken neben dem Türrahmen. Der Vater und die Töchter seien anschließend in eines der Krankenhäuser transportiert worden. Der 15jährige Sohn Ahmed sei mitgenommen worden. Ahmed erzählt, wie einer der Soldaten im Jeep mit einem Walkie Talkie auf ihn einschlug. Als das Gerät schließlich zerbrochen sei, habe er mit einem Gewehr weiter auf ihn eingeschlagen und geschrien, Ahmed habe den Walkie Talkie kaputt gemacht. Der 15jährige mußte daraufhin am Kopf genäht werden, erzählt die Familie. Sie konnten den Sohn später gegen die Zahlung von 150 Dollar abholen. Ahmad war noch zu jung, um eingesperrt zu werden. Auf dem Strafzettel stand, er habe Steine geworfen.

Die Söhne sitzen im Gefängnis, den Unterhalt für die Familie muß die 20jährige Tochter verdienen

Das Einlösen von Kindern ist ein durchaus übliches Verfahren der israelischen Armee, wie mir später ein in Gaza ansässiger Rechtsanwalt berichtet. Und das Verhalten des Militärs gegenüber der Familie Abdallah scheint keineswegs ein Einzelfall während der Ausgangssperre gewesen zu sein. Jeder in Gaza kennt eine Familie, die ähnliche Geschichten erzählen kann.

Die drei Söhne der Familie — mit Ausnahme Ahmads — sitzen alle im Gefängnis. Die Last, den Unterhalt für die Familie zu verdienen, liegt nun auf der Schulter der 20jährigen Tochter. „Ich mußte die Anwaltskosten für einen meiner Brüder, die Krankenhauskosten und das Strafgeld für Ahmad bezahlen. Jetzt ist das Geld alle“, überschlägt sie die finanzielle Lage der Familie. Zum Abschied zeigen sie mir noch die von den Soldaten herausgerissene Türklingel und das zerschmetterte Außenlicht.

Es wurde Zeit zu gehen, denn ab 9 Uhr abends herrscht seit drei Jahren eine nächtliche Ausgangsperre im Gazastreifen. Während in der gesamten muslimischen Welt im Fastenmonat Ramadan die Nacht zum Tag wird und die Menschen auf den Straßen feiern, warten die Menschen in Gaza eingesperrt in ihren Häusern auf den nächsten Morgen.