Ene mene mu — und raus bist du

Für Hermsdorfer Schüler geht der Vers weiter: „Raus bist Du noch lange nicht, sag mir erst, was der Westen verspricht.“  ■ Von Stefan Pannen

„Papstkrone — hat fünf Buchstaben.“ Ulf, Michael und Jan kommen nicht weiter mit dem Kreuzworträtsel. „Tiara“, helfe ich aus. „Paßt“, murmeln die drei anerkennend und stecken weiter die Köpfe über der Schulbank zusammen. Dienstagmorgen, dritte Stunde in der Werner- Seelenbinder-Oberschule in Hermsdorf, auf halbem Weg zwischen Gera und Jena, wie man früher sagte, oder zwischen Leipzig und Hof, wie es heute heißt.

17 Schüler der zehnten Klasse sitzen mir gegenüber, 17 von 120.000 ostdeutschen Mädchen und Jungen, die in diesem Jahr eine Lehrstelle suchen. Sie wissen: Nur jeder und jede dritte von ihnen hat eine Chance, im eigenen Land eine Lehrstelle zu finden. „Ulf, Michael, Jan — ene mene man; ene mene mu — und raus bist du.“ So wird auch in Hermsdorf abgezählt. Doch für die Hälfte der Klasse geht der Vers noch weiter: „Raus bist du noch lange nicht, sag mir erst, was der Westen verspricht.“

Acht der 17 Schüler haben in den alten Bundesländern, vorwiegend im naheliegenden Fränkischen, eine Lehrstelle gesucht. Eine hat bereits einen Lehrvertrag, vier waren in Westdeutschland zu Vorstellungsgesprächen oder mehrtägigen Praktika, sogenannten „Schnupperlehren“, und hoffen auf einen Arbeitsplatz, zwei haben einen Lehrvertrag bereits „ziemlich sicher“. Von denen, die sich gen Westen orientieren, hat lediglich Steffen bislang keine Lehrstelle als Installateur gefunden, zur Not kann er jedoch im väterlichen Betrieb in Hermsdorf unterkommen.

Umgekehrt sieht es hingegen bei denen aus, die in Thüringen bleiben wollen, oder sich noch nicht entschieden haben für eine Lehre in Ost oder West. Sechs von ihnen haben keinen Ausbildungsplatz, zwei werden weiter zur EOS gehen und nur einer, Lars, hat in Hermsdorf eine Stelle als Kfz-Lehrling gefunden. Er ist froh, daß er in der Heimat bleiben kann. Doch seine Freude ist nicht ungetrübt. „Was mich berührt, ist, daß wir auseinandergerissen werden“, meint der 16jährige. Da widerspricht ihm Michael, der Koch werden will und bereits zwei Schnupperwochenenden in Westdeutschland hinter sich hat: „Ich finde, daß jeder seinen eigenen Weg gehen muß. Ich kann mir nicht das Leben verbauen. Wenn ich hierbleibe, lerne ich gar nichts. Ich würde auch gerne hier draußen auf dem Rasthof am Hermsdorfer Kreuz arbeiten, aber die bauen zur Zeit so viele Arbeitsplätze ab, da hab ich drüben was Gutes gelernt, weil das Niveau einfach höher ist als bei uns.“ Das findet auch Sabine, die in Bayreuth zur Hotelfachfrau ausgebildet werden wird: „Ich hätte auch zum Interhotel nach Gera gehen können, wollt' ich aber nicht. Hier lernen, das ist Unsinn für Jugendliche.“

Die Schüler, die sich in Richtung Westen ausrichten, wissen, was sie tun. Ihre Chancen stehen nicht schlecht. Denn in den alten Bundesländern herrscht akuter Lehrlingsmangel. Die Gesamtzahl aller Auszubildenden ging dort 1990 im Vergleich zum Vorjahr um 8,6 Prozent auf 486.900 zurück. Da ist Nachschub aus Ostdeutschland gerne gesehen. [Ob die Lehrlinge nach Beendigung ihrer Lehrzeit übernommen werden, ist zweifelhaft. Lehrlinge sind Billigarbeitskräfte für das Kapital. Nach der Lehre sind sie wertlos, weil zu teuer. Sind die Ost-Jugendlichen wirklich so naiv? d.S.]

Auf der Strecke bleiben die, die nicht auf den Treck gen Westen gehen wollen — wie Saskia. Das zurückhaltende Mädchen will Krankenschwester werden, hat aber noch keinen Ausbildungsplatz. Und obwohl in Westdeutschland überall händeringend Pflegepersonal gesucht wird, will sie zu Hause bleiben, der Familie wegen.

Die Eltern spielen eine große Rolle bei der Suche nach einer Lehrstelle. Lars, der künftige Automechaniker, gibt zu: „Darum haben sich vor allem meine Eltern gekümmert, weil das ja in der alten Zeit nicht so gefragt war, das Selbstinteresse.“ Und Klassenlehrerin Petra Schöne weiß: „Die meisten haben die Eltern erst einmal wachrütteln müssen, die Jungen noch mehr als die Mädchen.“ Diese Einschätzung teilt Eberhard Straczkowski, der Schulleiter. Der Pädagoge mit der dicken Brille und dem milden Blick beobachtete, daß die Schüler erst allmählich verstanden, „daß die Eigenverantwortung zugenommen hat. Jetzt haben sie zwar das Bewußtsein, aber mit der Umsetzung in eigenes Handeln, da hapert es häufig.“

„Strazzo“, wie ihn die Schüler rufen, bemerkt diesen Mangel vor allem daran, daß die zehnte Klasse sich für den Unterricht kaum noch interessiert — und lieber Kreuzworträtsel löst. Wobei er nicht verkennt, daß den Jungen und Mädchen womöglich die nächste Prüfung in Chemie weniger wichtig ist als das Vorstellungsgespräch am Wochenende. Allerdings hätten die Schüler dabei ihre Erfahrungen machen müssen: „Am Schuljahresbeginn waren eigentlich die meisten sehr optismistisch, da sie oft unverbindliche Zusagen für wichtiger hielten, als sie tatsächlich waren.“

Dennoch, „der größte Teil wird abwandern“, vermutet der Schulleiter und fügt hinzu: „Natürlich ist es schlimm für eine Region, wenn die Jugend abwandert, das ist auch für den Lehrer kein schönes Erlebnis, wenn er spürt, wie seine ehemaligen Schüler Jahr für Jahr immer zahlreicher weggehen“ — zumal damit die Zahl der Neugeborenen in der Region sinkt. Die Folge: „Wir hatten im letzten Jahr weniger Schulanfänger als zuvor.“

Es sind nicht nur die fehlenden Schulanfänger, das soziale Gefüge ganzer Landstriche droht aus den Angeln zu geraten, wenn lediglich die zurückbleiben, die in Warteschleifen hängen, auf Null-Kurzarbeit oder arbeitslos sind, um ihren Arbeitsplatz fürchten müssen oder sich auf die Pflege des Haushaltes zurückziehen. Die Alterspyramide steht Kopf, wenn allzu wenige junge Berufstätige die abgewickelten Mitfünfziger und Rentner durchfüttern müssen. Wo keine Jugend ist, ist keine Hoffnung mehr. Der Satz wird bald in Thüringen zu lesen sein. Es sei denn, die, die jetzt gehen, kehren zurück.

Für Michael, den angehenden Koch, ist das keine Frage: „Wenn ich drüben in einem guten, noblen Ding bin, dann habe ich auch hier gute Chancen, irgendwo wieder reinzukommen. Ich möchte auf alle Fälle nach der Lehre wieder hierher.“ Hotelfachfrau Sabine will sich mit der Rückkehr Zeit lassen: „Ich möchte nach den drei Jahren Lehre erstmal rumreisen, Nordsee, England, Frankreich und so, Erfahrungen sammeln, und dann denke ich, daß in den Jahren, in denen ich lerne, auch hier die Wirtschaft so weit wieder in Ordnung ist und ich dann mithelfe, daß die Gastronomie wieder in Schwung kommt. Ich möchte ja selber, daß es hier wieder besser wird.“

Straczkowski traut den Versprechungen nicht. Zu viele hat er in den letzten Jahren gehen sehen. Zurückgekommen ist niemand. „Nach meiner Einschätzung wird die Mehrzahl der Jugendlichen, die in den alten Bundesländern eine Lehrstelle begonnen und dort Fuß gefaßt haben, nach dem derzeitigen Stand der Entwicklung kaum das Bedürfnis haben, schnell wieder hierher zurückzukehren.“

Vielleicht irrt er sich — genauso wie er das Maß der Eigenverantwortung seiner Schüler womöglich unterschätzt hat. Denn die wissen erstaunlich gut Bescheid über das, was in Wirtschaft und Politik vor sich geht, und überraschen im Gespräch ein ums andere Mal mit präzisen Einschätzungen der Lage. [Das ist äußerst kurzfristig gedacht. Marx sei Dank: Die sogenannte „soziale“ Marktwirtschaft wird über kurz oder lang genauso kollabieren wie die sozialistische Planwirtschaft. Das ökonomische Spannungsverhältnis zwischen der ersten und der dritten Welt wird schon dafür sorgen. Wo bleibt denn das dialektisch-materialistische Denken der Ostdeutschen? d.S.]. Und daß diejenigen, die in den Westen gehen, zurückkommen wollen, verrät ebenso ein gerüttelt Maß Verantwortungsbewußtsein wie die Berufe, die sich die 17 Zehntklässler ausgesucht haben: Die wollen in den Sozialbereich, fünf ins Handwerk und sechs in das Hotel- und Gaststättengewerbe, hinzu kommen eine Bankkauffrau und ein MAZ-Techniker — durchweg keine Berufe für Drückeberger.

„Strazzo“, der mich nach meinem Gespräch mit der Klasse noch einmal in sein Zimmer gebeten hat, scheine ich überzeugen zu können, daß es um die Verantwortung der Schüler nicht so schlecht bestellt ist, wie er befürchtet, zumindest nickt er freundlich, als ich ihm Bericht erstatte, und äußert den Wunsch, ich möge recht haben. Und was die Kreuzworträtsel betrifft — das bildet schließlich. Als ich den Klassenraum verlasse, will Ulf noch wissen: „Gestade — vier Buchstaben.“ Und er guckt ein wenig ratlos, als ich antworte: „Auf zu neuen Ufern“. Ich bin sicher: Er wird dahintergekommen sein.