Statisten auf der Weltbühne

Interviews mit deutschen Emigranten  ■ Von Elke Schubert

An einem schönen August-Tag im Jahre 1931 geht der Filmcutter Paul Falkenberg auf dem Ku'damm spazieren. Mit der aktuellen Politik hat er sich bisher nicht beschäftigt, obwohl er sich wie viele aus der Film- und Künstlerszene als Linker begreift. Er weiß nicht, daß sich die Politik schon seit längerem mit ihm befaßt. Daß er bald verschwinden muß, ist ausgemacht, denn er ist Jude. Eine SA-Gruppe prügelt auf den Ahnungslosen ein, und viel härter als ihre Schläge trifft ihn das Verhalten der Passanten; sie schauen weg, schlimmer noch: Viele spenden Beifall.

Man muß sie fragen, solange sie noch leben. Die Emigranten, die es in den dreißiger und vierziger Jahren rund um den Erdball verschlagen hat, weil sie in Deutschland nicht mehr leben konnten und durften. Ihre Konfrontation mit der neuen Macht war unterschiedlich, ebenso wie die auslösenden Momente für ihre Emigration. Aber in einem Punkt stimmen alle von Freyermuth befragten Künstler überein: Sie sind gegangen, weil sie auf die Bevölkerung Deutschlands nicht mehr zählen konnten. An diesem schönen Sommertag beschließt Paul Falkenberg, auf der Stelle das Land zu verlassen. Er wird Berlin nicht mehr wiedersehen und stirbt 1985 im amerikanischen Exil.

„Wie flieht man denn...? Haben Sie schon mal geflohen?“ Diese Frage stellte sich nicht nur der junge Schriftsteller Hans Sahl, nachdem der mit Haftbefehl gesuchte Pazifist sich vor den Nazis im Dschungel Berlin für eine Weile verstecken konnte. Es gab ja keine Erfahrung, von der hätte profitiert werden können, man schrieb entfernten Verwandten in Amerika und wartete auf eine Antwort. „So war das, dieses Fliehen aus Deutschland. Etwas völlig Unheroisches.“ Understatement, denn die Flucht des mittellosen Schriftstellers quer durch Europa bis in die Vereinigten Staaten war alles andere als eine beschauliche Reise, das kann man in seinem Roman Die Wenigen und die Vielen nachlesen. Von Sahls Abfahrt aus Berlin existiert ein Foto, eines der wenigen Dokumente über die Flucht aus dem Nazi-Deutschland: Ein Mann lehnt sich aus dem Zugfenster und lächelt etwas verlegen. Er weiß noch nicht, daß er erst 60 Jahre später zurückkehren wird.

Freyermuth hat Emigranten interviewt, für die Amerika zur zweiten Heimat geworden ist. Amerika war so ziemlich das letzte Land, das sich die Emigranten als Zufluchtsort vorstellen konnten, denn sie hatten wie alle anderen auch ihre Vorurteile über die angebliche Kulturlosigkeit der Bewohner des nördlichen Kontinents. Doch die USA waren für die Emigranten nach der Besetzung Frankreichs oft die einzige Alternative, auf die sie sich gezwungenermaßen einlassen mußten. Über die Konfrontation der Exilanten mit der Neuen Welt gibt es zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen. Es war, wie Adorno in seinem Aufsatz Aldous Huxley und die Utopie schrieb, auch die erste „massenhafte intellektuelle Emigration“, bei der es nicht mehr nur um ein besseres Leben, sondern ums nackte Überleben ging. Der Schock der Konfrontation mit einem Land der Zukunft hat sich auf die wissenschaftliche Arbeit vieler Emigranten fruchtbar ausgewirkt, man denke an die Frankfurter Schule oder an Günther Anders und seine Untersuchungen zu Rundfunk und Fernsehen. Nicht zuletzt haben Schauspieler und Schauspielerinnen, trotz vieler Rückschläge und aufgegebener Träume, von ihrer Emigration profitiert, indem sie Karriere in Hollywood machten wie beispielsweise Paul Henreid, der den Widerstandskämpfer Victor Laszlo in dem Kultfilm Casablanca spielte. Schon in England war er durch ein fashionables Musical bekanntgeworden, und ganz London riß sich um ihn. So auch der Botschafter des Dritten Reiches, Ribbentrop, der Henreid in einer Londoner Bar durch einen Kellner zum Tanz mit seiner Frau auffordert. Henreid will sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Er begibt sich an den Tisch des Botschafters und genießt seine kleine Rache: „Mich können Sie nicht herumkommandieren, ich bin kein Deutscher, ich bin Österreicher, und ich lasse mich nicht bestellen wie einen Eintänzer...Im übrigen habe ich in Wien die Manieren gelernt, die Sie in Berlin nicht gelernt haben.“ Noch heute bezeichnet Henreid diese Abfertigung Ribbentrops als den Höhepunkt seines Lebens. Seine Karriere als umschwärmter Frauenliebling endete abrupt, als er sich Anfang der fünfziger Jahre auf McCarthys schwarzen Listen wiederfand; trotzdem kehrte er nicht nach Deutschland zurück. „Sehen Sie, ich habe da einen gewissen Stolz.“ Er wechselte das Fach und wurde Regisseur.

Die Interviewten sind den USA dankbar für die Aufnahme, und diese Dankbarkeit bestimmt noch heute ihr Verhältnis zu diesem Staat. Nicht allen ist es so gut ergangen wie Paul Henreid, und nicht wenige haben New York als ihre zweite Heimat gewählt, weil es sie an Europa und seine Bewohner erinnerte. Auch der Behördendschungel blieb ihnen nicht erspart, aber selbst die absonderlichsten Erlebnisse konnten ihr Vertrauen in die amerikanische Demokratie nicht erschüttern. So schildert Falkenberg einen Behördengang mit dem Philosophen Günther Anders: „Ich sollte über ihn Auskunft geben, also erzählte ich: ,Zuletzt hat Mister Anders geschrieben über Kafka als Warner. Da fragten die mich: ,So so, wer wird gewarnt, wer ist dieser Kafka?‘ Und da waren all die langen Gänge und vielen Büros in dem Gebäude, und ich dachte: Das ist Kafka.“

Zeitzeugen zu befragen, ist ein schwieriges Unterfangen, vor allem wenn sie die achtzig schon überschritten haben. Nicht selten ist das Ergebnis eine Anekdotensammlung, die zwar ganz amüsant sein kann, der Erkenntnis aber wenig hilft. Freyermuth hat es durch geschickte und einfühlsame Interviewführung erreicht, daß die Befragten uns Geschichte exemplarisch an ihrer Person vorführen. Diese Schauspieler, Schriftsteller und Regisseure haben sich in ihrem Zufluchtsland eingerichtet, sie sind Kosmopoliten geworden, und ihre Verbitterung und Enttäuschung über die Deutschen ist geblieben. Es gibt kein Verzeihen, höchstens eine vorsichtige Annäherung. Und selbst diese Chance scheint verpaßt, denn Freyermuths Buch liest sich tatsächlich wie der Bericht einer Reise in die Vergangenheit — mehr als die Hälfte seiner Interviewpartner sind inzwischen gestorben. Die Reise in die Verlorengegangenheit ist eine Reminiszenz an Menschen, die sich trotz der ihnen zugefügten Ungerechtigkeiten nicht in Larmoyanz geflüchtet haben. „Seit fünfzig Jahren stehe ich als unbezahlter Statist auf der Bühne der Weltgeschichte...Ich habe nicht viel mitgemacht, gerade mal zwei Weltkriege, eine Inflation, zwei Emigrationen, that's all“, stellt Paul Falkenberg lakonisch fest.

Unverständlich ist jedoch, warum es Freyermuth nicht bei den Interviews mit den Emigranten belassen hat und das Berlin nach dem Mauerfall präsentiert — anscheinend um den Nachweis anzutreten, daß sich der Kreis der Geschichte wieder schließt? Sabine Bergmann-Pohl und Yaak Karsunke haben gegen die Ausstrahlung von Paul Henreid und Hans Sahl keinerlei Chance, sie wirken blaß und nichtssagend. So ertappt man sich beim Überschlagen der Kapitel über das heutige Berlin, weil die Gespräche mit den Emigranten wesentlich aufschlußreicher von der Vergangenheit in die Zukunft weisen.

Was aber noch unangenehmer ins Auge fällt, ist Freyermuths Klage darüber, daß sich die Deutschen im Nationalsozialismus ihrer kulturellen Elite beraubt hätten und somit Berlin nie wieder zur Metropole aufsteigen wird. Unwillkürlich fragt man sich da, ob es nicht Schlimmeres gegeben hat, angesichts dessen der Verlust von Kultur noch am wenigsten ins Gewicht fällt. Unwidersprochen läßt Freyermuth Gero von Gandert, den Verwalter des Archivs von Paul Krohner, schwärmen: „Soviel Humanität, soviel Menschlichkeit, wie man sie bei den exilierten deutschen Juden antrifft, kann man hier in Deutschland mit der Laterne suchen.“ Einmal davon abgesehen, daß es unter den Exilierten genausoviel Mißgunst, Neid und Intrigen wie Solidarität und Mitgefühl gab (zum Beispiel in Günther Anders' Tagebüchern oder bei Hannah Arendt kann man das aus erster Quelle erfahren), wird ihnen hier ein schlechter Dienst erwiesen. Sie waren keine Heiligen und wollten es auch gar nicht sein, was nicht zuletzt die Gespräche mit Freyermuth belegen.

Gundolf S. Freyermuth: Reise in die Verlorengegangenheit · Auf den Spuren deutscher Emigranten (1933-1940). 340 Seiten, mit zahlreichen Fotos, Rasch und Röhrig Verlag, gebunden, 39,80 DM.