Biographie: Das Leben ein Spiel

Zum Tod von Max Frisch/ Der weltbekannte Schweizer Architekt, Prosaist und Dramatiker starb im Alter von 79 Jahren in Zürich  ■ Von Elke Schmitter

Berlin (taz) — Das Cafe Odéon in Zürich ist ein Ort der Bohème und des Tourismus, ein Punkt, an dem historische Geschichten über die ruhmreiche Zeit des Dada, die intellektuelle Szene des Emigrationstreffpunktes Züri und heutige Metropolengrüppchen sich treffen: die Schwulenszene, die Literatenkultur, der späte Rest der Bohème.

Die Wände sind verspiegelt, die Decke ist hoch und mit Stuck und Gold verziert, die Theke ist halbrund und aus edlem, schimmerndem Holz. Die Kellner haben jenen lasziven Schick, der gleichzeitig einschüchtert und fasziniert, und die Gäste verraten in Habitus und Wortwahl diese gewisse Anstrengung, a la mode zu sein.

Ein Ort der Ungleichzeitigkeit und der Vermischung und einer, der Erinnerung eher zelebriert als sie bewahrt, ein Ort also, an dem man mit einer gewissen Rührung sich an die Protagonisten dieser Atmosphäre von Verruchtheit und Geist erinnert und sich fragt, ob sie selbst sich noch den Spiegeln aussetzen. Als einer DER Intellektuellen Zürichs, die man hier oft gesehen hat, wurde gesprächsweise Frisch genannt, und einer sagte, früher habe man ihn öfter hier gesehen. Ich versuchte, mir den alten Mann hier vorzustellen, und es gelang mir nicht: dieses Ambiente schien Gebrechlichkeit zu verbieten, es wirkte allzu erbarmungslos. In diesem Moment kam er herein.

Es war im März vorletzten Jahres, und es war kalt in Zürich. Er trug einen Wintermantel und ging schwer. Seine dicke Brille beschlug sofort, und sobald er Halt an der Bar gefunden hatte, nahm er sie ab und putzte die Gläser. Er bestellte etwas, das aussah wie ein Klarer, und er sah aus wie jemand, dem Alkohol zu trinken die Ärzte ein für allemal verboten haben. Es sprach ihn niemand an, es schienen ihn nicht viele zu erkennen, und seine Haltung sprach dafür, daß beides auch so bleiben sollte.

Es war nicht zu erkennen, ob er die makabre Differenz zwischen dem strahlenden, erbarmungslos modernen Ambiente und seiner Müdigkeit bemerkte. Er wirkte wie einer, der einfach immer langsamer gehen würde, um irgendwann einmal stehen zu bleiben. „Philosophieren heißt sterben lernen“, schrieb Michel de Montaigne. „Wenn Sie noch Fragen oder Probleme haben“, sagte Max Frisch zu Schlöndorf Anfang dieses Jahres, „rufen Sie mich ruhig an. Ich werde dann wohl schon bettlägerig sein, aber Sie können aufs Band sprechen. Ich werde mir dann den Kopf darüber zerbrechen, wenn ich's noch kann, und Sie dann zurückrufen.“

Max Frisch hat viel über Gebrechlichkeit geschrieben, über das Altern des Körpers, das Knacken der Knochen, den mürben Faltenwurf der Haut. Er ist einer der wenigen deutschsprachigen Autoren, die die Angst vor dem Blick in den Spiegel nicht allein den Frauen zuschrieben. Die Freundlichkeit, die allen seiner Frauenportraits eigen ist — auch jenen, vor denen seine Romanfiguren fliehen — beruht wohl auch auf diesem prekären Verhältnis zum eigenen Körper, das in unserer Zivilisation für Männer nach Überwindung der Pubertät kein Thema mehr sein darf: Wenn der letzte Pickel verschwunden ist, kommt nach einer langen Phase der Latenz der Kampf um die Juvenilität und das Funktionieren. Was nicht erlaubt ist, hat er auf eine diskrete Art und Weise als Schriftsteller ein Leben lang umkreist: das Gefühl der Ohnmacht gegenüber dem Verfall, dem Mangel an Schönheit, und das Empfinden von Scham, das den Körper bewohnt.

Seine Frauenfiguren sind, wo nicht von strahlender Schönheit, dem Autor immer in diesem einen Punkt voraus: die Scham ist, wenn sie nicht ganz überwunden wurde, zur Koketterie sublimiert; eine Koketterie, die Lila im Gantenbein, Ivy im Homo Faber, Julika im Stiller nicht denunziert, sondern auszeichnet: sie haben gelernt, mit ihrer Eitelkeit zu leben. Die verhaltene Zärtlichkeit, mit welcher der Autor alle Frauen beschreibt, teilt sich selbst da mit, wo sie ihm zu nahe kommen: „Ivy heißt Efeu, und so heissen für mich eigentlich alle Frauen. Ich will allein sein.“

Der Autor als Prosaist: ein privaterer Schiftsteller als der Dramatiker. Das Werk Max Frischs ist nicht über den Leisten des Intimen zu schlagen, er hat immer wieder Stücke geschrieben, die zeigen, daß ein Lebenslauf kein Privatbesitz ist. Die Selbstbehauptung, sein Lebensthema, ist in seinen Stücken veräußerlicht, nicht selten mit Lehrstückcharakter: Wilhelm Tell für die Schule, Andorra, sein letztes Drama über die Wehrdienstverweigerung.

Trotz der großen, auch pädagogischen Wirksamkeit seiner Stücke bleibt der Eindruck der Exkurse, des Beweismittels, der Vermittlung: Politik als Technik der Vermittlung eines Selbst, das sich nach außen kohärent präsentiert und damit schon weiß, das es lügt. Der Monolog in der Prosa, wie in Montauk, Stiller und Gantenbein ist eher geeignet auszudrücken, was die Figuren des Autors nie verläßt: der Skrupel.

Wer lebenslänglich dieselben Fragen hin und her bewegt, kommt ohne Selbstironie nicht mit sich aus. Die Leichtigkeit, die den Roman Mein Name sei Gantenbein auszeichnet, das Spiel mit den Identitäten, ist offen humorvoll: Ein Mann geht zum Optiker und kauft sich eine Blindenbrille und ist von Stund an ein anderer. Er genießt die neue Rollenprosa, er richtet sich ein zweites Leben ein: „Biographie: Ein Spiel“. Die Prosa von Max Frisch ist durchsetzt von Konjunktiven, vom Innehalten und der Frage: Was passiert, wenn ich das Flugzeug nehme, und was, wenn ich bleibe? An beiden Antworten knüpft sich eine Geschichte, und beide Geschichten werden so erzählt, daß sie ebenbürtig scheinen. Der Luxus nicht nur der Entscheidung, sondern selbst der Belanglosigkeit der Entscheidung, die Geschichte als eine Version unter vielen, lange bevor ein solcher Kunstgriff Programm der Literaturgeschichte wurde.

Die klassische Schullektüre neben Andorra, der Roman Stiller, spielt dasselbe Thema anders durch: weniger frivol als in „Gantenbein“, klarer strukturiert und mit einem anderen Grundton. Wenn es eine Version des deutschsprachigen Existentialismus gibt, dann liegt sie mit dieser Geschichte vor: ein Mann, der in der Untersuchungshaft zu beweisen versucht, daß er verwechselt wurde, ein Mann, der mit nichts als Worten und Geschichten zu beweisen versucht, daß er ein anderer ist.

Homo Faber, Max Frischs Roman über einen Techniker, der an der Nichtberechenbarkeit seines Lebens zugrunde geht, wurde soeben verfilmt. Die Angst des Ingenieurs vor dem Zufall, vor der Fruchtbarkeit der Frauen und der Natur beruht auf der düsteren Ahnung, daß seine Gesetze ein Urteil ermöglichen, aber daß dieses Urteil nachträglich bleiben muß — und vorläufig in einem anderen Sinn. „Mein Irrtum: daß wir Techniker versuchen, ohne den Tod zu leben.“