Wahrheit und Demagogie

■ Streibls Versuch, mit den Ostdeutschen Klartext zu reden

Wahrheit und Demagogie Streibls Versuch, mit den Ostdeutschen Klartext zu reden

Die Ostdeutschen sollen sich ihre Ansprüche abschminken. Auch beim „Wirtschaftswunder“ habe das Arbeitsleben „nicht mit Arbeitszeitverkürzungen, mit Spanien-Reisen und mit neuen Autos vor der Tür“ angefangen. So schreibt der bayerische Ministerpräsident Streibl in einem „Appell“ der Staatskanzlei. Zum ersten Mal äußert sich ein westdeutscher Spitzenpolitiker in einer Härte, die wenigstens entfernt den harten Veränderungen im Osten entspricht. Er trifft die Wahrheit immerhin, im Unterschied zu der ganzen sozialarbeiterischen Prosa Bonns, zur Suada des „sozialen Abfederns“, zu den zynischen Predigten in Sachen Optimismus, Talsohle und Aufschwungprognostik und auch im Unterschied zu unverbindlichen Katastrophenszenarien. Aber — und das ist auch bezeichnend — die Wahrheit wird hierzulande, wenn überhaupt, dann nur als Demagogie aufgetischt. Bekanntlich sind Vorurteile um so verheerender, je näher sie an der Wahrheit sind. Was Streibl jetzt sagt, ist gleichzeitig auch der um sich greifende rassistische Haß auf den „Ossi“, der die Westdeutschen beherrscht.

Dieser Rassismus wird permanent durch die Wirklichkeit bestätigt: Anspruchsvoll und beleidigt, mißtrauisch und lahm, gierig und unzufrieden ist der Ossi. Zehntausende von wohlmeinenden, verständnisvollen, rüden, arroganten, rechten, linken, liberalen Helfern aus Westdeutschland formieren sich im Osten zu einer geschlossenen paternalistischen Fronde, die jenen merkwürdigen Stämmen aus der realsozialistischen Zeit die moderne Realität erklärt. Die Wahrheit, die da allein vermittelt werden kann, ist: Der Kapitalismus wird eine Wirtschaft zerstören, die jahrzehntelang den Weltmarkt ignoriert hat. Arbeitslosigkeit würde auch dann herrschen, wenn dieser oder jener Fehler der Treuhand nicht gemacht worden wäre. Aber: Mit dem Kapitalismus ist auch eine radikale Gesellschaftsänderung gekommen, in der die Ostdeutschen eben auch nur als passive Objekte sich bewegen. Und das berührt den anderen Teil der Wahrheit. Es wird keinen Aufschwung geben, wenn alle Menschen im Osten, deren Existenz bedroht ist, alle sonstigen Veränderungen nur als Opfer erfahren. Der Aufschwung muß auch ein Aufbruch zur neuen Gesellschaft sein, oder er wird nicht sein. Diese Wahrheit kann kein Westdeutscher dem Ostdeutschen einreden, weil der dazu nichts zu sagen hat. Klaus Hartung