Politik ist Dreck

Zur Berliner Uraufführung von Reiner Groß' Erstlingswerken ein Gespräch mit dem Autor  ■ Von Margit Knapp
Cazzola

Ich hab den Alexander Lang beim Theatertreffen vor dem Spiegelzelt abgepaßt und ihm die Nacht zu lesen gegeben, und er hat gesagt: ,Das inszenier' ich.‘ Dann hab ich ihm die Nördliche Stadt gegeben, und er hat gesagt: ,Ja, das inszenier' ich auch.‘“

Gesagt, getan. Die Uraufführung der beiden Erstlingswerke Nacht und Nördliche Stadt von Reiner Groß unter Regie von Alexander Lang am Schiller-Theater verblüffte allerdings mit einer Künstlichkeit, die das Premierenpublikum mit geteilter Begeisterung zur Kenntnis nahm.

„Ich hab's dem Lang gegeben, weil ich dachte, der ist der Richtige. Ich schreibe ja so gut wie keine Regieanweisungen. Es ist in meinen Augen unprofessionell, wenn der Autor diese Arbeit vorwegnimmt, sagt, wo gelacht wird. Man muß eben seinem Text trauen. Ich will dieses diktatorische Verhältnis nicht, sondern der Text ist für mich Material, das ich den Schauspielern und dem Regisseur zur Arbeit übereigne.

Ich hab' mit diesen Stücken auch die Hoffnung, daß die Leute ins Schiller-Theater gehen, die sonst nicht ins Schiller-Theater gehen. Für die Abonnenten hab ich das bestimmt nicht geschrieben. Ich kann mir auch vorstellen, daß die entsetzt sind oder gar nichts verstehen, aber das ist mir völlig wurscht.

Die Menschen aus der sozialen Schicht, die ich beschreibe? Ich glaube, die gehen da auch nicht hin, weil die dafür kein Geld ausgeben.“

Die Figuren von Reiner Groß sind Penner, Arbeitslose, Prostituierte, Matrosen, die allesamt weitab von der bürgerlichen Gesellschaft stehen. Ideale kennen sie keine, sie haben keine Neugierden und keine Hoffnungen.

Reiner Groß, Jahrgang '57, geboren in Moers, ging mit 18 zur See, weil er die Welt sehen wollte. Dann wurde er Schauspieler, in Bochum und in Zürich. Seit 1987 lebt er als Dramatiker in Berlin.

In Nacht (1989) und in Nördliche Stadt (1990) geht es ihm um Aggression und Verzweiflung. Die Wut entsteht nicht langsam, nein, sie sitzt allen schon von Anbeginn im Bauch. Hassen und Morden haben sie im Sinn, wenig anderes.

Reiner Groß spricht leidenschaftlich, direkt: „Die Welt ist voller Gewalt. Gewalt ist das Verhaltensmuster schlechthin. Der Mensch ist ein gewalttätiges Tier. Die Menschen wollen Macht und benutzen sie, wenn sie sie haben. Es gibt ständig Krieg in der Welt. Die Armen schlagen sich gegenseitig tot. In Afrika schlagen sich die Negerstämme gegenseitig tot. Die Penner am Bahnhof Zoo gehen sich an den Kragen. Das ist so in den sozialen Verhältnissen, in denen die Leute gezwungen sind zu existieren. Da gehen sie sich an die Gurgel.“

Gegen Ende von Nördliche Stadt: Lifti ersticht Spitzer, der Matrose erwürgt Lifti, Kami ersticht den Matrosen, Tittenina ersticht Kami. Später ersticht noch Saleh Marne. Vorher gibt es Szenen aus ihrem Alltag zu sehen, aus ihrem Leben und Überleben.

Gegen Ende von Nacht: Woytek erschlägt Deimler, Paula nimmt Gift, die Butikerin erwürgt Moll, Lee erschlägt Luv, Laye durchbeißt die Kehle von Lee.

In beiden Stücken sind sie mit Überleben und Töten beschäftigt, jenseits der Geschichte, ohne Entwicklung, ohne kausale Zusammenhänge, zeitlos, ortlos, egal in welchem Land, in welcher Stadt. Differenziert wird nicht.

„Welche Stadt? Die Städte sind ja austauschbar, es ist das gleiche Prinzip überall, von den Machtstrukturen her. Die Politik ist ja so gesteuert, daß sich die Armen gegenseitig abschlachten. Europa und Amerika kontrollieren die Welt. Afrika und Asien werden einfach ausgebeutet. Afrika ist ein blutendes Land. Diese Negerfürsten, die jetzt da die Staatspräsidenten sind, die sind ja noch schlimmer als die Kolonialherren, das ist eine Blutspur sondergleichen, Afrika ist ein völlig ausgebeuteter Kontinent, da ist das Schlachten an der Tagesordnung.

Die amerikanische und europäische Weltpolitik ist ein einziger Scheißhaufen. Das muß ich so drastisch sagen. Man wundert sich, warum das so ein obszönes Gerede ist in meinen Stücken, aber wenn ich mich nüchtern, ernsthaft, bescheiden damit auseinandersetze, dann verwickle ich mich wie in einen Gerichtsprozeß. Das kann man nur polemisch sagen. Sonst träte ich genau in den Verein ein, den ich ablehne. Ich hab keine Ideologie. Politik ist Dreck.“

Obszönität als Stilmittel zur Provokation — mit dieser Forderung trat Reiner Groß an. Was ist daraus geworden? Als Provokation wurden die beiden Stücke ganz und gar nicht inszeniert. Nacht geriet zur komödiantischen Farce, Nördliche Stadt zum flotten Comic.

Auf einer weithin leeren Bühne, einem bunten Farbflecken, aus dem vier Laubbäume wachsen und über dem ein blauer Mond auf schwarzem Himmel schwebt, wirken die Kleinganoven Luv (Christian Berkel) und Lee (Matthias Redlhammer) wie zwei Zirkus-Clowns. Zur illustren Nacht-Runde gehören auch noch der Pole Woytek, im gewürfelten Anzug, der melancholisch Ziehharmonika spielt, Wolke (Walter Schmidinger), der einen Hund als Saufkumpanen sucht, der Penner (Bernhard Minetti), die Butikerin (Katja Paryla), die eine gelb-rote Federschlange um die Schultern geworfen trägt und mit ihren Freunden die Zeit in einer Gartenkneipe totschlägt.

Die Kontinente treten als Allegorien auf, mit Masken, wie in den barocken Moralitäten-Spielen. Afrika hungert, Europa ist übel, weil sie sich überessen hat, Nordamerika weiß guten Rat, Asien versteht nichts.

Nordamerika (Stefan Merki) spielt Saxophon.

Nachdem Laye, der Schwarze, Habiba (Maria Hartmann), die Weiße, erstochen hat, beginnt das große Töten und Morden, denn Deimler, der Aufsteigertyp, will Rache für seine Frau. Ein ferngesteuerter Plastikhund mit Leuchtaugen hat einen ihrer Arme im Maul, der Rest von Habibas Gebeinen wird als Paket verschnürt auf die Bühne geworfen, Plastikglieder, versteht sich. Wie im Zeitraffer fallen sie um: Deimler, Paula, Moll, Luv, Lee — und springen, gleich darauf, das adäquate Lied summend, wieder auf: „Don't worry, be happy.“

Gefällig und nett ist Nacht geworden, eine belanglose, skurrile Unterhaltungsnummer. Die Schauspieler und Schauspielerinnen müssen rezitieren wie Plastikfiguren, das erhöht die Distanz.

Nach der Pause, in der Nördlichen Stadt hingegen, blitzen die Messer, werden blutende Wunden zugefügt. Die beiden Strolche Lifti und Kami erstechen gleich zu Anfang den Bettler Barbarossa (Walter Schmidinger), was einem sehr leid tut. In dem auch hier wieder schönen, sparsamen Bühnenbild (Caroline Neven Du Mont), zwischen Betonruinen und einer Laterne, wirken die schrägen Gesellen, Penner und Prostituierten in ihren bunten Perücken und bunten Kostümen wie Leute, die ein unbeschwertes Leben führen.

Man setzt auf Stereotypen: Marne (Katharina Thalbach) macht mal kurz auf M.M., Tittenina wippt mit ihren Brüsten, wie im Ballett springt der Matrose auf die Bühne, fuchtelt mit dem Messer und ersticht schließlich jemanden aus dem Publikum, aus der ersten Reihe. Dort sitzt glücklicherweise eine Stoffpuppe.

Auf dieser Comic-Ebene bekommt das Stück ein flottes Eigenleben. Nur das Gerde von der Wut und der Armut nimmt man den Typen nicht mehr ab. Lächerlich sind sie geworden, nichtssagend, austauschbar. Der Text hat seinen Zündstoff verloren, seine Kraft, trotz des guten Regiegriffs. Das Obszöne wird elitär. Das Provokante, im Spiel hat sich's verflüchtigt.

Reiner Groß: Nacht/Nördliche Stadt, Regie: Alexander Lang, Bühne: Caroline Neven Du Mont, mit Katharina Thalbach, Walter Schmidinger, Bernhard Minetti. Schiller-Theater Berlin