Die Mauer an Oder und Neiße ist gefallen

■ Kaum war die Aufhebung des Visazwangs zum 8. April beschlossene Sache, da war von "Ansturm" und "Einreisewellen" von Millionen "konsumhungriger Polen" die Rede. Doch an den Grenzübergängen...

Die Mauer an Oder und Neiße ist gefallen Kaum war die Aufhebung des Visazwangs zum 8. April beschlossene Sache, da war von „Ansturm“ und „Einreisewellen“ von Millionen „konsumhungriger Polen“ die Rede. Doch an den Grenzübergängen blieb es ruhig — bis auf die Aktionen einiger Neonazis, die die reisenden Polen aufs übelste beschimpften.

Nicht alle von uns haben Telefon“, versucht ein Grenzbeamter etwas hilflos die zahlenmäßige Unterlegenheit der Polizei kurz nach Mitternacht am Frankfurter Brückenkopf zu erklären. Seit wenigen Minuten — es ist kurz nach Mitternacht — können die Bürger Polens visafrei nach Deutschland einreisen. Nur wenige Frankfurter sind gekommen, um Völkerfreundschaft zu demonstrieren — die Feuerwehr hat über den Brückenbogen ein Transparent angebracht mit einem Willkommensgruß in polnischer Sprache. Viel mehr Rechtsradikale sind aufmarschiert, etwa hundert, meist jugendliche; sie empfangen die ersten Ankömmlinge mit Parolen wie „Deutschland den Deutschen“ und „Polen raus!“, zünden Feuerwerkskörper und werfen Rauchbomben zwischen die Autos. Vor dem Grenzhäuschen parken zu diesem Zeitpunkt ganze drei frisch umgespritzte Ladas der ehemaligen Volkspolizei.

Der erste Wagen mit schwarzem Nummernschild fährt mit medialem Begleitschutz vor; ein Kamerateam der ARD hat sich — ganz stolz, nach Stunden vergeblichen Wartens endlich einen mutigen Fahrer gefunden zu haben — auf den Rücksitz gezwängt, getreu ihrem Motto „bei uns sitzen Sie in der ersten Reihe“. Zahlenmäßig stehen sich die Rechtsradikalen und die Vertreter von Zeitungen, Funk und Fernsehen in nichts nach, doch hält zumindest die Presse sie von ihrer eigentlichen Mission ab. Das fällt ihnen irgendwann selbst auf, denn eine jener Frankfurter ruft ihren „Kameraden“ schließlich wütend zu: „Da kommen die Pollacken von hinten, und wir reden hier vorne mit dem NDR.“

Deutsche Nummernschilder als Tarnung

Die ersten polnischen Touristen hatten sich schon am frühen Sonntag abend an der Grenze eingefunden, um das Inkrafttreten der Visafreiheit vom 8. April abzuwarten. Wie an den Nummernschildern ihrer zumeist schwer beladenen PKWs zu erkennen war, kamen sie aus der Warschauer Region. Auf der polnischen Seite des Übergangs versuchten Reporter kurz vor Mitternacht, die Wartenden zu interviewen, blieben aber zumeist erfolglos, weil diese entweder kein Deutsch sprachen oder gar nicht nach Deutschland einreisen wollten.

Von einem lokalen Anzeigenblatt in Frankfurt/Oder war am Sonntag die Nachricht von einem zu erwartenden Neonazi-Aufmarsch verbreitet worden. Daraufhin hatte die Polizei den Verkehr über die Autobahnbrücke, etwa zehn Kilometer südlich der Stadt, umgeleitet. Die wenigen Polen, die dennoch über die innerstädtische Grenze einreisen wollten, hatten sich entweder zur Tarnung deutsche Nummernschilder angeschraubt oder wurden vom Bundesgrenzschutz in die nächste Seitenstraße gewunken und verschwanden über Schleichwege. Rund hundert teilweise angetrunkene, zum Teil vermummte jugendliche Deutsche hatten sich gegen 20.00 Uhr vor der Brücke versammelt und skandierten Parolen wie „Heil Hitler“. Nachdem die wenigen Polizeibeamten die kurz vor Mitternacht auf 250 Personen angewachsene Menge aufgefordert hatte, auseinanderzugehen, drängten sie die Neonazis in die Nebenstraßen ab.

Die „Einreisewelle“ an der ehemaligen Brücke des Friedens bleibt aus. Gegen 02.30 löst sich auch die Gruppe Neonazis auf, nachdem sie sich mit der inzwischen verstärkten Frankfurter Polizei noch eine kleine Straßenschlacht geliefert haben. Die Frankfurter Polizei verzeichnet bis 04.00 morgens 15 Festnahmen. Detlev Kuhlbrodt/

Dorothee Wenner, Frankfurt/O

Fassungslosigkeit, Scham und sogar Angst

Auch am Grenzübergang Gubin-Guben haben sich kurz vor Anbruch des historischen Tages auf deutscher Seite etwa 30 Personen, zumeist Jugendliche, zusammengefunden und protestieren lautstark gegen Besucher vom anderen Neiße-Ufer. Die ersten Polen, die zu Fuß kommen, werden dann auch in rüder Form „empfangen“. „Was soll das Dreckzeug hier bei uns“ und „Begrüßungsgeld wollen sie haben, das ist alles“ sind die einschlägigen „Grußformeln“. PKWs hingegen hatten 75 Minuten lang gar keine Chance, polnisches Territorium zu verlassen, denn mitten auf der Straße saßen junge Deutsche, und auch der Schlagbaum wurde von ihnen mit Macht niedergehalten.

Ablehnung der Deutschen nur schwer verständlich

Jutta Gräfe-Dehn, Wirtin der Grenzgaststätte „Zur Traube“ ist fassungslos als sie das mitkriegt, sie schämt sich und hat auch Angst. Sie empfängt mit Barbara und Josef Hadada gute alte Bekannte aus Polen.

Immer wieder das Bemühen der deutschen Zöllner und Angehörigen des Bundesgrenzschutzes, durch Zureden die Blockierer zum Einlenken zu bewegen. Doch vergebens. Dafür recht lautstarke Äußerungen der Störenfriede, die die Polen als Händler, Schieber und Schwarzarbeiter beschimpfen. Als Beleg führen sie unter anderem den Polenmarkt in West- Berlin an. Alles verläuft ohne Handgreiflichkeiten. Auf polnischer Seite scheuen noch immer einige Passanten den Weg über die nun paßfreie Grenze. Unverständnis darüber, warum jedes Wochenende mehrere tausend Deutsche — zuletzt rund 9.000 — Preiswertes auf dem polnischen Markt in Gubin erwerben, aber selbst keine Fremden ins Land lassen wollen. „Sorgen wir nicht auch mit unseren Einkäufen in Deutschland dafür, daß neue Arbeitsplätze geschaffen werden?“ fragt der 20jährige Germanistik-Student Sebastian Gryza von der Poznaner Universität. Er hat Freunde in Dresden und Hildburghausen, möchte aber heute gern weiter in Richtung Holland. Es sei ihm unverständlich, wieso Jugendliche eines derart begabten Volkes sich so ablehnend gegenüber einem europäischen Nachbarn äußern. Dabei ist sein Blick geradeaus gerichtet, in die noch vor wenigen Minuten blockierte „Straße der Freundschaft“. Tom Schönherr (adn), Guben