Leipziger Demo abgewickelt

Die Montagsdemonstrationen sind unter dem Einfluß westdeutscher Gewerkschafter zur Routine verkommen/ Sprachlosigkeit und Schweigen beherrschten den vorläufig letzten Marsch  ■ Aus Leipzig Götz Aly

Montag 17.00, Friedensandacht: Die Nikolai-Kirche ist gut gefüllt, ständig kommen mehr Menschen. Sie erwarten „nicht die Wunder des Schlaraffenlandes“, sondern „Solidarität und Liebe zwischen allen Menschen“. „Wenn dieses Prinzip nicht unter uns ist“, sagt der Pfarrer, „dann ist die Hölle los.“ Einheit sei ein Problem der ganzen Welt, „es muß weitaus mehr zusammenwachsen als das, was zufällig deutsch ist“. Es geht um Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, um „Gottebenbildlichkeit“ von Männern und Frauen, von Deutschen und Kurden. „Ja, das will ich!“, antwortet die Gemeinde im Chor.

Um fünf Minuten vor sechs ist Schluß. Doch kaum jemand wendet sich zum nahegelegenen Platz zwischen Oper und Universität, wo Montagskundgebung und Ring-Demonstration beginnen sollen, die IG Metall und ÖTV organisieren. Aus der Lautsprecheranlage dröhnt gemäßigte Marschmusik. Der riesige Platz ist kaum gefüllt. Stiernackig und wohlgenährt ergreift der Erste Bevollmächtigte der örtlichen IG Metall, Jochen Kletzin, das Wort, distanziert sich von dem „blindwütigen Mord“ an Rohwedder, kündigt eine Schweigeminute an und brabbelt nach einer Verlegenheitspause von bestenfalls 15 Sekunden weiter — in schönstem Fränkisch. Kletzin distanziert sich von den Neonazis, die in der Nacht zuvor polnische Reisende an der deutschen Ostgrenze überfallen hatten. Er fordert die „Errichtung eines Runden Tisches“ zum Zweck der Beschäftigungssicherung, eine „Dienstanweisung“ der Bundesregierung an die Treuhand zur Sanierung der Betriebe. Die Versammelten — überwiegend 50jährige, die Aufrufe zu Massenkundgebungen wohl schon immer als eine Art Bürgerpflicht befolgten — verziehen keine Miene. Für den kräftigen Beifall sorgen die um das Mikrofon gescharten Claqueure. „Auf geht's, mir geh'n los!“, feuert ein wohl aus dem südlichen Bayern importierter Funktionär die Schweigenden an. Schleppend setzt sich der Zug in Bewegung. Die Polizei regelt den Verkehr. Marschiert wird nur auf der Innenfahrbahn des Rings, um Autos und Straßenbahnen nicht übermäßig zu behindern. Vorneweg die Wimpelgarde der ÖTV, dann — mit eingeschalteter Warnblinkanlage und leicht erhöhtem Standgas — der Lautsprecher- und Beratungswagen der IG Metall. Die nachfolgenden „Demo-Teilnehmer und -Teilnehmerinnen“ schweigen. Sie tragen kaum Transparente, rufen nicht eine einzige Parole. Niemand reiht sich in diesen Zug ein. Nach nur vier gewerkschaftlichen Montagen hat der Leipziger Witz die Regenschirmspitze erreicht: Zwei aufgepflanzte Wirsingkohlköpfe wurden durch die schwefeldioxidgetränkte Abendluft getragen. Die Sprach- und Ausdruckslosigkeit der Demonstranten legt sich über die Stadt. Wo Streit, Widerspruch und Diskussion gefordert wären, empfiehlt der Lautsprecherwagen, „sich bei Problemen aller Art an die gewerkschaftlichen Ortsverwaltungen zu wenden“.

Schwitzend hatte der Mann im feuerroten VW-Bulli — Peter Suck — zu Beginn noch gestammelt: „Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist unheimlich wichtig, daß wir den Druck von der Straße erhöhen“, um am Ende des Umzugs zu erklären: „Wir werden es von den weiteren Verhandlungsergebnissen abhängig machen, welche Maßnahmen wir in Zukunft ansetzen.“ Die dem gewerkschaftlichen Anliegen treu verbundene Leipziger Polizei schätzte 25- bis 30.000 Demonstranten... Vielleicht waren es halb soviele. Jedenfalls viel weniger als beim letzten Mal. Mit dieser Demonstration ist die Usurpation der berühmten Leipziger Montage endgültig — und zu Recht — gescheitert. Schuld daran sind selbstverständlich nicht eine falsche Strategie deutscher Gewerkschaftsfunktionäre und mumifizierter „Demo-Koordinationskreise“, schuld sind auch nicht die Leipziger, denen zu ihrer Lage einfach nichts einfällt, schuld an dem Leipziger Debakel sind — sonnenklar — die Mörder des Detlev Karsten Rohwedder. Schon am Dienstag sagte der sächsische DGB alle weiteren Montagsdemonstrationen ab. Dieses Kampfmittel habe sich, erklärte der Dresdner DGB-Pressesprecher Markus Schlimmbach, offensichtlich „totgelaufen“. Auch dürfe der DGB — man höre und staune — „die Gereiztheit der Bevölkerung nicht hochputschen“. Diese Gefahr bestand am vorläufig letzten der Leipziger Montage zu keiner Sekunde. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat in den vergangenen vier Wochen dafür gesorgt, daß die Stadt ihre Sprache verliert, daß sich Dumpfheit und Resignation verstärken. Was noch bleibt, sind die Montagsandachten in der Nikolai-Kirche: Unter den zartgrünen Akanthus- Blättern des Kirchengewölbes hält sich dort — trotz aller Schwierigkeiten — ein Hauch von frühlingshafter Aufbruchstimmung.