ABSCHIED VOM MILITÄR

■ Max Frisch über die Verantwortung der Linken

Unsere vernunftmäßige Verurteilung des Krieges (heute) besagt noch nicht, daß wir friedensfähig sind. Friedensfähig wäre eine Gesellschaft, die ohne Feindbilder auskommt. Wer kann sich das innenpolitisch leisten! Gesellschaften mit Gewalt-Struktur mögen sich den Nicht- Krieg wünschen; der Friede widerspräche ihrem Wesen. Was ihnen reicht: der Nicht-Krieg. Ein wirklicher Friede würde gefährlich für sie, da ihre Staatsmacht nie eingestehen kann, daß sie eine Armee braucht, um sich unter Umständen vor ihrer eigenen Bevölkerung zu schützen, und daß sie zwecks Tarnung dieser Armee-Funktion gezwungen ist zu einer Rüstung, die das Vaterland vor aller bösen Welt zu schützen vorgibt, und somit gezwungen zur unentwegten Pflege alter und neuer Feindbilder, die alle Kosten für die Rüstung rechtfertigen — wobei jedes Feindbild immer auch das eigene Wesen entlarvt: Wie soll denn ein Erpresser von Geblüt je zu dem Vertrauen gelangen, sein Nachbar sinne nicht auf Erpressung? (...) Ob der Überlebenswille der menschlichen Gattung ausreichen wird zu dem beschwerlichen Umbau unserer Gesellschaft in eine friedensfähige, bevor wir mit der Strategie der Abschreckung gemeinsam in einer Umweltkatastrophe enden, weiß ich nicht. Wir hoffen es. Und das bedeutet: Was weiterhin auf unseren Waffenplätzen geübt wird oder über Mittelmeer oder Tundra, wenn man mit den neuesten Flugzeugen übt, halten wir für antiquiert,... So antiquiert wie vor einem Super- Gau die bundesrätliche Beschwörung der schweizerischen Neutralität. Also wir hoffen, ja, aber das ist eine mühsame Hoffnung; das Gebet für den Frieden (ob mit oder ohne Papst) entbindet nicht von der Frage nach unserem politischen Umgang mit dieser Hoffnung, die eine radikale ist. Ein Abschied vom militärischen Denken ist nicht leicht; das militärische Denken hat Jahrtausende der Geschichte geprägt und zur heutigen Lage geführt, die diesen Abschied erzwingt. Der Glaube an eine Möglichkeit des Friedens — als einzige Möglichkeit für ein Überleben des Menschengeschlechts — ist ein revolutionärer Glaube.“

Eigentlich schrieb Max Frisch schon lange nicht mehr, aber einmal schwang er sich noch auf: im Frühjahr 1989 entstand das Stück Schweiz ohne Armee?, im darauffolgenden Herbst die Rede Der Friede widerspricht unserer Gesellschaft. Die hier zitierte Schlußpassage dieser Rede sind die letzten Sätze des letzten Buchs, das Max Frisch zu Lebzeiten veröffentlicht hat — eine Auswahl politischer Schriften aus fünfzig Jahren (Schweiz als Heimat?, Suhrkamp-Verlag 1990). Wenn es in den Nachrufen auf Frisch heißt, mit seinem Tod neige sich eine Ära, die der Nachkriegsliteratur, ihrem Ende zu — an diesen Sätzen wird deutlich, daß es sich dabei weniger um das Ende einer Kunstepoche, sondern das einer politischen Haltung, eines revolutionären Standpunkts handelt. Welcher europäische Autor hat sich angesichts der aktuellen Kriegssituation auch nur annähernd in solcher Klarheit geäußert, wie viele Intellektuelle sind über den Wunsch des „Nicht-Kriegs“, die „unentwegte Pflege alter und neuer Feinbilder“ hinausgekommen?

„Manchmal scheint es auch mir, daß jedes Buch, so es sich nicht befaßt mit der Verhinderung des Kriegs, der Schaffung einer besseren Gesellschaft und so weiter, sinnlos ist, müßig, unverantwortlich, langweilig, nicht wert, daß man es liest, unstatthaft“, lautete einer der klassisch gewordenen Sätze von Max Frisch. Ein hehre Maxime, die auch und gerade diejenigen Intellektuellen glatt unterschreiben, die jetzt dafür plädiert haben, der Todesspirale Rüstung-Krieg-Rüstung eine weitere („notwendige“) Windung hinzuzufügen — und die deutschen Kriegsgegner als im besten Fall naiven, im schlimmsten Fall antisemitischen/faschistoiden Haufen bezeichneten. Statt die Ohnmacht auszuhalten, die der Abschied vom militärischen Denken mit sich bringt, haben sie auf die Macht, auf den Krieg, auf „das Tier“ gesetzt — und versagt.

Max Frisch hat es 1986 in einem Interview mit der 'WOZ‘ ('Wochenzeitung‘) so ausgedrückt: „Natürlich hat die Bourgeoisie, der wir zwei Weltkriege in diesem Jahrhundert verdanken, auf ihre Weise versagt, ohne sich bis heute ihres Versagens bewußt zu sein. Das können wir uns nicht leisten. (...) Die Linke hat einen kühnen Anspruch an die Intelligenz der Menschen und dann auch noch an ihre Moralität. Und das bringt ihr die Noblesse, aber auch die Ohnmacht. Faschismus setzt einfach auf das Tier. Warum der Faschismus erst einmal triumphiert, er hat die Natur auf seiner Seite, das Tier. Und wir dagegen erstreben etwas, was es ja noch nie gegeben hat. Was wir betreiben, das ist ja Prometheus: die Selbst-Ernennung des Menschen. Links ist eine Anstrengung. Lebenslänglich. Und dann unsere Dispute, ja, bis zum Zerwürfnis immer wieder, aber das ist nicht anders zu haben. Du bist ein Linker und Atheist, einmal angenommen, und ich gehe zur Messe und will ein Linker sein, ja, das gibt Disput. Nämlich Links hat mit Geist zu tun. Der macht einer Junta nicht zu schaffen. Wären wir zwei Großgrundbesitzer, da verbrauchten wir uns nicht in einem endlosen Konzil, sondern uns einigt unser Großbesitz und wir verteidigten gemeinsam unser Revier, und das ist die Kraft der Rechten: das Tier.“

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