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Wenn der Poststempel über die Einstellung entscheidet

Wie ein Ost-Intendant die „Qualifikationsgarantie ,Wessie‘“ umgeht und die begehrte Stelle erhält/ Immer verdächtig: Bescheidene Gehaltsforderungen  ■ Von Henning Pawel

In jenen alten Tagen, als unsere Sehnsucht nur die eine Richtung kannte, kam es mitunter vor, daß man, aus welchen Gründen auch immer, für einen Bundesbürger gehalten wurde. Ich gestehe, nicht ein einziges Mal habe ich dagegen protestiert. Schreckliche Augenblicke dann allerdings beim Bezahlen, im Restaurant oder auf der Bahnhofstoilette. Die unweigerliche Entlarvung und bittere menschliche Enttäuschung in den Augen des düpierten Oberkellners, der Toilettenfrau.

Heutzutage nun wieder solche Irrtümer. Es soll noch immer, trotz sehr erschwerter Bedingungen, vorkommen, daß Hiesige für Drübige, für Altbundesbürger, gehalten werden. Wohl jenem, dem es geschieht. Der Trugschluß ist nützlicher denn je. Besonders auf dem Arbeitsmarkt. Angenommen, man ist ein Genie. Nur ein Thüringer Genie zwar, aber immerhin. Man ist Dramatiker, Regisseur, sogar Schauspieler und will nun Intendant werden an einem Thüringer Theater.

Freudig macht sich das Genie auf den Weg. Im tiefen Süden beginnt es die Arbeitssuche. Residenzmusentempel eines Reformherzogs.

Bedauern. Leider. Schon besetzt die Stelle.

„Mit einem Genie?“ fragt das Genie enttäuscht.

„Das entzieht sich unserer Kenntnis, aber“, geheimnisvolles Flüstern, „jedenfalls ein Intendant von drüben.“ Weiter zieht unser Genie. Nach Eisenach. Doch auch hier. Alea jacta est. Gefallen die Würfel.

„Ein Genie?“ — „Von drüben kommt er jedenfalls.“

Die Erfurter Bühnen. Von drüben. Rudolstadt. Von drüben — Nordhausen...? — Altenburg...?

Das Genie wird immer bitterer. Kein Thüringer Theater mehr für einen Thüringer zu haben.

Dann vorsichtiges Erfragen der Intendantengage. Erschreckter Ausruf des Genies. Ich mache es für die Hälfte. — Keine Lohndrückerei bitte. Qualität und Kompetenz ist eben teuer und nicht unter, na sagen wir, 7.000 DM zu haben. Außerdem, die Konzepte dieser Leute sind einfach besser, frischer, origineller, weltbürgerlicher.

„Sie kennen mein Konzept doch gar nicht“, empört sich das Genie. „Und was bitte heißt weltbürgerlich?“

„Noch nicht einmal das weiß er, aber eine Intendanz in Thüringen.“ Mitleidiges Auflachen. Nein, die wenigen Intendantenstellen, die wir haben, bekommen Menschen, die sie verdienen. Immer bitterer wird unser Genie.

Landauf, landab, die gleiche Misere. Jeder will nur Drübige in die Chefetagen haben. Die Banken, die Versicherungen, die Polizei. Dubiose Privatdetektive werden zu Polizeiräten geadelt. Ein Hochstapler schleicht sich ins Vertrauen eines Magistrates und ruiniert, mit Riesengage ausgestattet, innerhalb kürzester Zeit ein altes, traditionsreiches Mecklenburger Theater. Konkursbetrüger erhalten Millionenkredite. Einzige Voraussetzung, von drüben müssen sie sein.

Und die Hübigen, sogar die Genies? Kein Bedarf. Das Genie hat nun wieder einen Genieblitz. Wenn also kein Theater vakant ist, bitte dann die Intendanz eines großen Festes, des Weimarer Internationalen Kunstsommers. Ein Weimarer Kunstfest mit einem Hübigen? Verständnisloses Stirnrunzeln. So was macht aber niemand. Immer holt man sich die Intendanten von weit her. Das letzte und auch dieses Mal aus Bad Kissingen. Wo das liegt? Irgendwo in Bayern, zwischen Schweinfurt und Wasserkuppe.

Das Genie hat nun gestern doch noch Arbeit gefunden. Meinem Rate folgend, hat es einfach in seine Bewerbung geschrieben — Herkunftsort: Drüben. Und schon war die Einstellung perfekt. Noch nicht einmal Genie brauchte er als Qualifikation anzugeben. Nur eben Drübiger. Eine Entlarvung als Hübiger konnte nicht stattfinden. Allein die geforderte Gagenhöhe ließ alle Zweifel an seiner Herkunft sofort verstummen.

Welches Theater er übernommen hat? Das darf ich nicht sagen. Der Einstellungskunstgriff würde platzen, und der Hinauswurf wegen Hochstapelei folgte auf dem Fuß. Aber es wird ohnehin bald von selbst aufkommen. Schließlich ist er ja wirklich ein Genie und wird Geniales vollbringen an seinem Theater. Noch ein Hinweis, liebe Landsleute. Sollten Sie in hiesigen Gefilden eine gute Stelle im Auge haben und dieselbe gerne antreten wollen, nicht erst die Bewerbung in Thüringer Briefkästen schmeißen. Fahren sie die paar Kilometer weiter, zur Post nach Duderstadt oder Eschwege. Sie werden sehen, das funktioniert. Alles, was von drüben kommt...

Ein bißchen Training dann noch vor dem Einstellungsgespräch, damit der Personalchef wieder einmal dem nützlichen Irrtum verfällt, und schon sind sie dabei.

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