Die Menschenschmuggler Die Tschechoslowakei ist neuer Sammelpunkt für Flüchtlinge aus aller Welt. Über die grüne Grenze im Erzgebirge lassen sie sich für teures Geld von Schleppern in die Bundesrepublik schaffen. Der Vorhof zum erhofften Paradies heißt Teplice. Doch vielen verwehrt der Bundesgrenzschutz den Eintritt. Von Torsten Preuß

Im Nordwesten der Tschechoslowakei, dort, wo sich im Erzgebirge saurer Regen und tote Bäume gute Nacht sagen, liegt die Stadt Teplice. Wenn an manchen Tagen die dunklen Wolken so schwer am Himmel hängen, daß man sich unter einer schweren Last wähnt, der Schnee als Schmutz vom Himmel fällt und die Luft so angenehm wie in einer Tiefgarage ist, verweist nichts darauf, daß Teplice der Vorort zum Paradies sein könnte. Mitten im Zentrum, am unteren Ende der Einkaufsstraße Masarykova ter, steht das Hotel de Sax. Ein Haus, das sich mühelos in das Ensemble der runtergewirtschafteten Gebäude einfügt. Einzig der hellbraune Putz hebt es von den angrenzenden Häusern ab. Eine Hotelhalle gibt es nicht, nur ein schmaler Korridor führt zur Rezeption. Hinter einer Glaswand sitzt eine Frau mittleren Alters, raucht Zigaretten ohne Filter und unterhält sich mit der Klofrau. Mit einer müden Handbewegung weist sie den Gang zum Restaurant. Dessen Ambiente ist so ungastlich wie die ganze Herberge. Auf dem Tischtuch sind mehr Flecken als Gäste im Raum.

Ein Visum trennt vom Land der Hoffnung

An der Fensterfront sitzen drei Einkaufstouristen aus Sachsen, für die das Schild „II. Skupina“ (Preisstufe 2) keine Bedeutung mehr hat. Die Westmark macht das Familienessen zum billigen Vergnügen. Auf der rechten Seite sitzen in einer Ecke, die nicht gleich einzusehen ist, vier Jungen, für die selbst „V. Skupina“, die billigste Preisstufe, noch zu teuer wäre. Auf ihren Tischen stehen nur randvolle Aschenbecher. Alles, was sie haben, paßt in drei Plastiktüten, und alles, was sie wollen, ist weg von hier. Noch trennen sie rund 20 Kilometer und eine Grenze, für deren Übertritt ihnen das Visum fehlt, vom Land ihrer Träume. Sie sind bettelarm, und doch verdient sich die Hoteldirektion an ihnen eine goldene Nase. Sie vermietet die Zimmer an Menschen aus den Krisenregionen dieser Welt, für die Teplice die letzte Station vor dem Eintritt ins erhoffte Paradies ist. Von hier aus, vom Hotel de Sax, geht es zur grünen Grenze, zum illegalen Einwandern in die Bundesrepublik Deutschland.

Trotz der wenigen Gäste herrscht im Restaurant rege Geschäftigkeit. Wichtigtuerische junge Männer aus Jugoslawien, der Tschechoslowakei und dem Libanon wechseln in nagelneuen Adidas- und Nike-Sportschuhen laufend von Tisch zu Tisch und diskutieren in kleinen Gruppen. Es geht ums Geschäft, um Geld, das sie mit der Ware Mensch verdienen. Sie sind es, die die Flüchtlinge in Teplice empfangen, betreuen und den letzten Rest der teuren Flucht erledigen.

Die vier Jungen, die sich in der hinteren Ecke des Restaurants langweilen, kommen aus dem Libanon. Sie sind zwischen 18 und 22 Jahre alt. Nach einer kurzen Diskussion bestellt der jüngste von ihnen eine Pepsi für alle. Er und seine drei Freunde sind vor zwei Monaten aus Beirut geflohen. Wenn sie von ihren Erlebnissen dort sprechen, bekommen ihre jungen Gesichter einen Ausdruck, der erahnen läßt, daß sie auf dieser Welt nur noch sehr wenig erschrecken kann. Sie haben gesehen, wie Menschen von Granaten zerfetzt wurden, wie einstürzende Häuser ganze Familien unter sich begruben, sie haben Verwandte verloren, die von Milizen abgeholt und später zu Tode gefoltert irgendwo am Straßenrand gefunden wurden. Sie gingen abends zu Bett und standen morgens auf mit der Angst, selbst das nächste Opfer des mörderischen Bürgerkrieges zu sein. Zwar haben die rivalisierenden Gruppen im November den Krieg in der zerstörten Stadt für beendet erklärt, aber was heißt das schon? Also weg.

Im Hotel de Sax warten sie nun schon seit einer Woche. Der Mann, der sie in dieser Zeit betreut, heißt Mohamed. Er ist 39 Jahre alt und ebenfalls aus dem Libanon. Mit einem breiten Lachen tritt er an ihren Tisch. Die vier reagieren gereizt. Sie reden auf Mohamed ein, der alle Mühe hat, sie zu beruhigen. Wann geht es endlich Richtung Deutschland, wollen sie von ihm wissen, doch er zuckt nur mit den Schultern. Die Witterung ist schlecht, meint er. Deswegen konnten in den letzten Tagen nur kleine Gruppen die Grenzen überschreiten. Nehmen die Schleuser sonst bis zu 60 Personen mit, riskieren sie es unter diesen Bedingungen höchstens mit 10 bis 15 Leuten. Für heute sei schon alles voll, erklärt Mohamed mit einer Miene des Bedauerns und zeigt zur Rezeption, an der sich eine Gruppe Menschen sammelt. Sie kommen aus Rumänien, der Türkei und Afghanistan. Zehn Flüchtlinge, darunter zwei Kinder.Hastig steigen die Flüchtlinge in die Autos, die vor das Hotel de Sax gerollt sind, ein und verstauen das geringe Gepäck. Ihr sonstiges Hab und Gut wird, weil beim Marsch durch das Unterholz hinderlich, von Helfern in einem der internationalen Züge über die Grenze gebracht.

Langsam setzt sich die Autokolonne in Bewegung. Auf der Fernverkehrsstraße 170 geht es in Richtung Zinnwald, zur deutsch-tschechischen Grenze. Kurz davor biegen die Wagen in einen kleinen Feldweg ein, der sich in Sichtweite zur deutschen Seite durch den Wald schlängelt. An der verabredeten Stelle wartet ein ortskundiger Tscheche, der sich auf diese Art einen lukrativen Nebenverdienst sichert. Von ihm wird es abhängen, ob die kleine Gruppe nach wochenlangen Strapazen in dieser Nacht endlich deutschen Boden erreicht. Auf der anderen Seite warten schon Busse oder LKWs, um die Flüchtlinge aufzunehmen und in die alten Bundesländer zu bringen. Gestört werden sie dabei kaum, denn das Erzgebirge geht zeitig schlafen.

Wenn sich die Nacht langsam über die kranken Wälder legt und der dunkle Himmel einen satten Kontrast zur schneebedeckten Landschaft bildet, bereitet sich auch Ernst Schepanske auf einen Marsch durch die klirrende Kälte vor. Dann zieht er die olivgrüne Wattejacke an und ruft seine Männer zusammen. Ernst Schepanske ist Bundesgrenzschutzoffizier aus dem Westen und seit dem 3. Oktober 1990 der neue Chef am Grenzkontrollpunkt Zinnwald, rund 40 Kilometer von Dresden entfernt. Seitdem er hier ist, besteht seine Hauptbeschäftigung darin, die Flüchtlinge am illegalen Grenzübertritt zu hindern. Die Situation vergleicht der 38jährige gern mit der an der mexikanisch-amerikanischen Grenze. „Nur sind sie dort besser ausgerüstet“, stellt er fest. Er und seine Truppe haben ungefähr 50 Kilometer zu bewachen. Der Grenzübergang Zinnwald liegt dabei ziemlich in der Mitte. Nach Einbruch der Dunkelheit macht sich je eine Streife mit zwei bis drei Mann in die beiden Richtungen auf den Weg. Mit einem Auto fahren sie ihren Abschnitt entlang und wissen aus Erfahrung, an welchen Punkten mit den Illegalen zu rechnen ist. Wenn eine Gruppe gestellt wird, fährt ein Grenzer zurück, um einen Barkas zu holen. Die anderen bleiben zur Bewachung zurück. „Aus allen Ländern, sogar aus der Mongolei kommen sie“, erzählt Schepanske. Die größte Gruppe, die er gestellt hat, betrug „63 Stück“. Der Schleuser war ein Araber.

Zurückverfrachtet in die Tschecholoswakei

Viele von ihnen leben selber mit einem Asylantrag in Deutschland. Eigentlich dürfen sie die Stadt, in der sie den Antrag gestellt haben, gar nicht verlassen. Aber das Geld lockt, und der Job ist relativ ungefährlich. Zwar macht der BGS eine Meldung an die zuständige Ausländerbehörde, aber offenbar ohne Wirkung. Öfters wird ein und derselbe Schlepper zwei- oder gar dreimal erwischt. Die Flüchtlinge, die beim Grenzübertritt ertappt wurden, schiebt man nach einer Befragung im Grenzkontrollgebäude wieder in die Tschechoslowakei ab. Dort bekommen sie zwar die Adresse eines Lagers, in dem sie sich melden müssen, aber nur wenige kümmern sich darum. Die Mehrzahl wartet, bis es dunkel ist, und versucht es dann nochmal. „Eigentlich sind wir ziemlich hilflos“, sagt Schepanske. „Sie sind zu viele und wir zu wenige“.

Wer es nach Deutschland schafft, ist deswegen längst nicht in Sicherheit. Ob die Flüchtlinge hierbleiben dürfen oder abgeschoben werden, ob sie sich einleben oder nicht, all das hängt von Umständen ab, die sie kaum kennen. Noch haben sie das Bild vom reichen Deutschland im Kopf, das sie nur vom Hörensagen oder von den Lobpreisungen der skrupellosen Menschenschmuggler kennen, die international organisiert arbeiten. Vor Ort in den Krisengebieten zeigen sie Videobänder, die Deutschland in den schönsten Farben malen. Ein Land, daß die Notleidenden dieser Welt mit offenen Armen empfängt. Sie organisieren die Flucht wie eine Pauschalreise, mit Zwischenstopps und Reisepapieren, die nicht selten gefälscht sind. Nur reist der Flüchtling nicht zu seinem Vergnügen und gibt meist alles, was er hat, um den geforderten Preis zu bezahlen. Der ist unterschiedlich hoch, hängt vom Startland und dem Reiseweg ab. Ein Libanese erzählte, daß er für seine Flucht 1.000 DM bezahlen mußte, ein afghanisches Arztehepaar dagegen 2.000 Dollar. Diese Summen sind nur für die „Schlepper“. Flugtickets und Unkosten müssen extra bezahlt werden. Wer offiziell nach Deutschland reisen möchte, braucht ein Visum. Um das zu bekommen, braucht man eine Einladung, in der polizeilich bestätigt wird, daß der Gastgeber für den Lebensunterhalt des Eingeladenen während seines Aufenthalts aufkommt. Nur wenige haben Bekannte, die diese Forderung erfüllen könnten. Hinzu kommt, daß sich die meisten auf der Flucht befinden und nicht wochenlang in einer deutschen Botschaft auf ein Visum warten können. Sie haben keine Heimat mehr, leben in Flüchtlingslagern und sind so für die „Hilfe“ der Menschenhändler leicht empfänglich.

Die „goldene Stadt“ ist das Einfallstor

Ein Weg, der seit dem Ende der DDR als beinahe sicher gilt, ist der über die Tschechoslowakei. Für dieses Land verschaffen die Schlepper den Flüchtlingen Transitvisa. Über London oder Paris fliegen sie damit nach Prag. Der internationale Flughafen der „Goldenen Stadt“ gilt als der Haupteinreisepunkt für diejenigen, die ohne Papiere nach Deutschland wollen. Das Transitvisum berechtigt sie, sich sieben Tage lang in der CSFR aufzuhalten. Von Prag werden sie mit gecharterten Bussen oder Schwarztaxen von den Schleppern in die Nähe der sächsisch-böhmischen Grenze gebracht. Dort warten sie in Hotels wie dem de Sax auf den letzten Schritt über die Grenze.

Wenn die Schleuser ihre Aktion erfolgreich abgeschlossen haben, treffen sie sich nachts im Hotel Pomezi, nur 600 Meter vom Grenzkontrollpunkt Zinnwald entfernt. Von außen erinnert das zweistöckige Haus an eine etwas zu groß geratene, längst vergessene Skihütte. Das Restaurant ist eine Zumutung. Im Keller aber gibt es eine Weinstube, die sich vom Schmuddellook des übrigen Gebäudes abhebt. Zwischen 21 und 3 Uhr legen hier die kleinen und großen Geschäftemacher, die Zigarettenschmuggler und Menschenschleuser ihr schnell verdientes Geld packenweise auf den Tisch. Sie rauchen Marlboro und bestellen literweise sowjetischen Sekt für sich und für die Prostituierten, die mitverdienen wollen.

Für Mohamed ist das nichts. Er agiert lieber im Hintergrund. Mit ihm ins Geschäft zu kommen, ist alles andere als leicht. Mißtrauisch reagiert er auf die Frage, ob er jemanden kenne, der zwei Leute aus Rumänien ohne Papiere nach Deutschland bringen könne. Er steht auf und geht. Nach zehn Minuten kommt er mit zwei Freunden wieder. Sie halten den Frager fest, tasten ihn ab, halten ihn wohl für einen Polizisten. Erst dann setzen sie sich an einen Tisch, von dem aus sie den Eingangsbereich genau im Auge behalten können. Mohamed meint, er sei kein Schleuser. Auf die hartnäckige Frage nach dem Preis sagt er nach lebhafter Debatte mit seinen arabischen Spezis endlich: „1.000 DM für beide.“