Enteignung des Protestes

■ Zur „Absage“ der Montagsdemonstrationen durch Gewerkschafter

Jetzt hat der IG-Chemie-Vorsitzende Rappe einen „Schlußpunkt“ hinter den Montagsdemonstrationen in Ostdeutschland gefordert. Argument: schließlich sei genügend Geld für eine Wende in der Wirtschaft da. Auch die IG-Metall hat die Montagsdemonstrationen „abgesagt“. Das „Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost“, die konzertierte Aktion, die nationale Pflicht verlangen den Schulterschluß in Bonn und nicht die Demagogie auf den Leipziger Straßen. Schon die Okupation der Montagsdemonstration durch die Gewerkschaften war skandalös, weil sie eben mehr beinhaltete als nur die Organisation von Protesten der Arbeitslosen und Abgewickelten, sondern weil sie vor allem auch ein durchsichtiges, kurzatmiges Spiel mit der einzigen und kostbaren Tradition des revolutionären Herbstes 1989 darstellte. Ihre Absage jetzt ist geradezu obszön. Die Gewerkschaften haben es überdeutlich gezeigt, wie sehr sie Teil der politischen Klasse Bonn sind. Sie waren an einer selbständigen politischen Kraft, an einer politischen Massenautonomie in Ostdeutschland nie interessiert. Es galt Druck zu machen, und die Verzweiflung der Ostdeutschen war gerade die greifbare Energiezufuhr.

Sicher ist es richtig, daß es nicht die Parteien sind, sondern die Gewerkschaften, die die Interessen der Leute vertreten, die die Arbeitslosen nicht ins Leere fallen lassen. Gerade deswegen ist ihr Spiel mit dem Massenprotest um so verheerender. Das Grundgefühl in der Ex-DDR ist das der großen Enteignung. Nicht nur die Arbeitsstelle, die Kindergartenplätze, die Ferienquartiere gehen verloren, sondern die ganze Vertrautheit bis hin zum Ton der eigenen Stimme, die gerade einmal laut geworden ist, verschwindet. Das Gefühl der Wut, der Ohnmacht, des Betrogenseins ist dasselbe; nun aber erklären die Gewerkschaften, es sei politisch überholt. Die „Straße“ ist nicht opportun, jedenfalls nicht bis zum Juni, wenn der Kündigungsschutz aufhört. Dann können die Betrogenen wieder zurückgepfiffen werden. Es wird jedenfalls Zeit, daß die Menschen in Ostdeutschland allmählich den Gedanken fallenlassen, es gäbe die deutsche Einheit schon. Sie müssen sich aus der Falle der Hoffnungen und Erwartungen gegenüber dem Westen fliehen und zwar so massenhaft, wie sie sich jetzt betrogen fühlen. Klaus Hartung