Sofia: Tschernobyl-Lüge vor Gericht

■ Bulgarische Ex-Minister müssen sich wegen ihrer falschen Informationspolitik verantworten

Sofia (afp) — In Sofia hat am Montag der Prozeß gegen zwei ehemalige Minister des gestürzten kommunistischem Regimes begonnen, die beschuldigt werden, die Bevölkerung nicht ausreichend über die Tragweite der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vor fünf Jahren informiert zu haben. Das Gerichtsgebäude war am Montag morgen von mehreren tausend Demonstranten umlagert, die „Mörder“ und „Mafia“ skandierten. Der Vorsitzende der Umweltbewegung „Ecoglasnost“, Petar Slabakow, erklärte am Montag im Rundfunk, dieser Prozeß werde den „verantwortungslosen kommunistischen Führern eine Lehre sein“. Die Gruppe, die heute immer noch zu einer der treibenden Kräfte der bulgarischen Opposition gehört, wurde nach Tschernobyl gegründet und kritisierte erst im letzten Winter die bulgarische Atompolitik. Dem früheren Vizepremier Grigor Stoichkow und dem Ex-Gesundheitsminister Lubomir Schindarow drohen bei Verurteilung bis zu drei Jahre Haft.

Bulgarien war eines der am schwersten von der Katastrophe in der Sowjetunion betroffenen Länder. Die Staatsanwaltschaft wirft Stoichkow unter anderem vor, er habe als damaliger Chef des Zivilschutzes die Bevölkerung trotz hoher Strahlenwerte nicht über die von Experten empfohlenen Schutzmaßnahmen informiert. Die Radioaktivität in der Luft war in Bulgarien 65mal, an einzelnen Orten sogar um 163mal höher als nach den bulgarischen Sicherheitsrichtlinien erlaubt. Die Lebensmittel waren in hohem Grad verseucht. Die Angeklagten können sich keineswegs auf eigene Unkenntnis der Lage zurückziehen. Denn die richtigen Angaben wurden der Armee und hohen Funktionären der Kommunistischen Partei mitgeteilt. Als „ungeheuerlich“ bezeichnet die heutige bulgarische Presse diese Vorgänge. Gemäß ihren Angaben wurde die Nomenklatura sogar mit nicht verseuchten Lebensmitteln und Trinkwasser versorgt. Schon vor fünf Jahren waren Gerüchte im Umlauf, wonach die Nomenklatura importierte Lebensmittel erhielt. Ärzte entdeckten nach der Katastrophe einen Anstieg von Krebsfällen, insbesondere bei Kindern, und eine Häufung von Fehlgeburten.