Folgen von Tschernobyl verharmlost Neue Sorgen über Risse im Sarkophag

Paris (taz/afp) — Die sowjetische Akademie der Wissenschaften ist offenbar entschlossen, die Welt weiter über die verheerenden Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zu täuschen. Der Vizepräsident der Akademie, Professor Leonid Iljin, dementierte jetzt am Rande einer Tschernobyl-Konferenz in Paris Aussagen seines Wissenschaftler- Kollegen Wladimir Tschernusenko, der am Wochenende von 7.000 bis 10.000 Toten gesprochen hatte. Laut Iljin ist nach den 31 unmittelbaren Opfern aus dem Jahr 1986 nur ein einziger weiterer Strahlentoter zu beklagen. Dabei handele es sich um den Hubschrauberpiloten der im vergangenen Jahr nach einer gescheiterten Knochenmarktransplantation in den Vereinigten Staaten starb.

Die etwa 600.000 Soldaten, Feuerwehrleute und sonstigen Helfer, die bei der Dekontaminierung des Reaktorwracks und dem Bau des Beton-Sarkophags eingesetzt wurden, kommen in Iljins Opferbilanz nicht vor. Sollten sie ausnahmslos, wie der Vizepräsident der Moskauer Akademie implizit behauptet, ihren Einsatz bis heute überlebt haben, würde dies sämtliche wissenschaftliche Erkenntnisse über die Wirkungen radioaktiver Strahlung der vergangenen 50 Jahre über den Haufen werfen. Iljins Widersacher Tschernusenko, der nach der Explosion mit der Überwachung der Region betraut war, hatte seine Opferbilanz in einer britischen Zeitung veröffentlicht und erstmals das offizielle Schweigen zu diesem Thema durchbrochen.

Alexander Borowoi, Professor am Moskauer Kurtschatow-Institut, berichtete bei der Pariser Konferenz über „insgesamt tausend Risse“, in dem 1986 in aller Eile errichteten Beton-Sarkophag. Die Schäden könnten „innerhalb von sieben Jahren“ zu einer Gefahr werden. Im Verlauf des Super-GAU habe sich einmal ein sogenanntes „China-Syndrom“ angebahnt, berichtete Borowoi. Dabei schmilzt der Betonsockel des Reaktors unter dem Einfluß der Hitze der nuklearen Kettenreaktion. Nach Angaben des Wissenschaftlers umschließt der Sarkophag 182 Tonnen lavaähnlich eingeschmolzenen Atombrennstoff und 15 Tonnen hochgefährlichen radioaktiven Staub. Dieser Staub und das am Reaktorgrund angesammelte verseuchte Wasser stellten angesichts der Lecks die Hauptgefahr dar, sagte Borowoi. Über eine zweite Ummantelung des Reaktors wird bereits seit längerem diskutiert. gero