Die polnische „Flut“

Von den Medien herbeigeschrieben, ist sie bisher doch ausgeblieben. Vielleicht machen die östlichen NachbarInnen von ihrer neuen Reisefreiheit keinen Gebrauch, weil sie Angst vor dem Rassismus der Deutschen haben. Beobachtungen aus Frankfurt/Oder und ein Streifzug durch die deutsche Journaille  ■ VonDetlefKuhlbrodtundDorotheeWenner

Dufte, endlich was los!“ freut sich eine betrunkene Frau, die sich als Polizistin zu erkennen gibt, als Neonazis Feuerwerkskörper auf ihre diensthabenden Kollegen an der Frankfurter Oderbrücke werfen. Ja, eine Geschichte, die sollte passieren an jenem Tag, und um sie nicht zu verpassen, waren viele JournalistInnen angereist. Was sich in Frankfurt in jener Nacht ereignen würde, hatte der von Eisenhüttenstadt bis Rand-Berlin in 96.000 Exemplaren kostenlos verteilte 'Oderanzeiger‘ einige Tage zuvor schon ziemlich genau vorausgesagt: „Tatzeit: 8. April. Tatort: Frankfurt, Oderbrücke... Hunderte Mitglieder dieser sogenannten ,Deutschen Alternative‘ werden nach Frankfurt kommen und nicht gerade Frühlingssträuße in den Händen haben...“ Lokale und überregionale Zeitungen hatten die Nachricht vom angekündigten Neonazi-Aufmarsch unter Regie von „Führer Kühnen“ ungeprüft übernommen. Und so kam am Tag der Grenzöffnung beinahe je ein Journalist auf jeden der höchstens 150 „Neonazis“ (Wir setzen „Neonazis“ im folgenden in Anführungszeichen, weil eine solche Etikettierung suggeriert, es hätte sich bei den in Frankfurt Versammelten um organisierte oder paramilitärisch ausgebildete Gruppen gehandelt und weil eine solche Etikettierung Unterschiede verwischt; vergessen läßt, daß sich rechtsradikales Gedankengut auch unter den Wählern „demokratischer“ Volksparteien finden läßt). Möglicherweise hatte viele dieser zumeist sehr jungen Hooligans, Babyskins und besoffenen Mitbürger eben jener Artikel an die Oderbrücke gelockt, dem auch Presse, Funk und Fernsehen nach Frankfurt gefolgt waren?

Szenen wie für einen Spielfilm

Nie war es einfacher ins Fernsehen zu kommen: ein erhobener rechter Arm, ein „Heil Hitler“, schon drängelten sich die Kameraleute und Fotografen arbeitswütig um ihre „Neonazis“. Einige Szenen verdienen herausgehoben zu werden: Im lauten Durcheinander eines Polizeieinsatzes greifen sich ein paar Beamten einen Jugendlichen und zerren ihn ins Auto. Mit großer Geste wirft sich daraufhin eine Neonazibraut ihrem Kumpel an den Hals und versucht zu heulen. Als trotz angestrengter Bemühungen keine Tränen kommen, versucht sie, nicht ohne sich vergewissert zu haben, daß sie jemand zurückhalten wird, ihrem Kameraden hinterherzueilen und wird natürlich von einer heroischen Befreiungstat zurückgehalten. In einer anderen Szene hat es „Röpke“ erwischt. In einer Nebenstraße wechselt sein lebloser Körper vom Polizei- zum Krankenwagen. Herumstehende „Neonazis“ betrauern den ihren pathetisch und beschimpfen gemeinsam mit einigen Rentnern die Polizisten. „Die wirklichen Nazis seid ihr.“ Die meisten Sprüche wirken wie auswendiggelernt. Nur ein Betrunkener scheint ehrlich empört; allerdings eher aus Gründen der sportlichen Fairneß: „Drei auf einen. Solche Strolche!“ Kamerad „Röpke“ allerdings, so erfahren wir später, hatte sich bloß totgestellt, oder, wie ein Sanitäter meinte: „Der hat wohl ganz plötzlich einen Hexenschuß gekriegt.“ Die Fronten verlaufen bei proletarisch sozialisierten Jugendlichen quer durch den Bekanntenkreis: Ein Langhaariger, der sich mit zwei Freunden darüber aufregt, daß es keine Gegendemonstration geben würde, begrüßt zunächst freudig einen alten Kumpel, um im Verlauf des Gesprächs enttäuscht festzustellen, daß der inzwischen einen Hakenkreuzsticker an seiner Jacke trägt. Ein fetter Trinker, der den Polizisten zuruft, sie sollten doch anstatt sich gegen „Deutsche“ zu wenden, lieber die Grenze stürmen, schwankt Arm in Arm mit seinem polnischen Trinkkumpan, der seit ein paar Jahren in Frankfurt lebt und das Verhalten der Deutschen nicht begreifen kann.

Man fühlte sich wie beim Straßentheater: vier betrunkene rechtsradikale Teenager führen, umringt von hundert feixenden Journalisten einen ekelhaft-lächerlichen Veitstanz auf. Sie befinden sich sichtlich noch in der Wachstumsphase und sind durchschnittlich zwei Köpfe kleiner als die herbeigeeilten westdeutschen Bundesgrenzschützer.

Die Verbindung zwischen Fremdenhaß und Faschismus ist vielen Hooligans nicht bewußt. Ein junger „Kuttenträger“ findet es ungerecht, als Faschist bezeichnet zu werden. Das müsse er sich schon von seiner Mutter sagen lassen, die doch selber „ausländerfeindlich“ sei. Mit arglosem Blick ärgert er sich über die „Sieg Heil“-Rufe seiner Kollegen.

Kanzler Kohl ärgert sich über anderes. Das Schlimmste bei der Vereinigung sei nicht das wirtschaftliche Desaster oder die grassierende Ausländerfeindlichkeit, erzählte er zwei Tage nach der Grenzöffnung im Radio, sondern die Art, wie sich das Ost-West-Verhältnis, in den Wortschöpfungen „Ossi“ und „Wessi“ dokumentieren würde. Es ist sehr schön, daß der Kanzler inzwischen eine so große Sensibilität für Sprache entwickelt hat. In der Tat läßt sich an der Sprache, mit der bundesdeutsche Medien, Volk und Politiker die längst fällige Reisefreiheit der Polen begrüßten, einiges zeigen.

Angefangen bei Adorno und seinen Studien über den autoritären Charakter über Fayes Totalitäre Sprachen bis zu den Männerphantasien Theweleits, gab es in der westlichen Linken eine gute Tradition von Büchern, die die latenten Formen des Faschismus untersuchten. Nicht nur die Sprachbilder und Metaphern, in denen NSdAP-Männer über sich selber Auskunft geben, standen im Mittelpunkt, es wurde vor allem auch die latent faschistische Disposition von „Normalbürgern“ anhand ihrer Sprache untersucht. Auffallend viele Naturmetaphern entdeckte Klaus Theweleit in den Tagebüchern vieler Freikorpssoldaten und Nationalsozialisten. Schmutzige Fluten und Wogen bedrohen da den Soldaten, der sich aufrecht im Feld ihnen entgegenstellt. „Naturkatastrophenmetaphern“ dominierten auch da, wo von „den Polen“ die Rede war. Aus ihnen wurde — nicht nur im Osten — eine anonyme und unkontrollierbare Naturgewalt: „Schwappt die Händlerwoge, die [...] zu einer sturmgepeitschten Riesenwelle ansteigen kann, in kürzester Zeit über Frankfurt?“ fragt sich zum Beispiel der Chef des 'Oderanzeiger‘, Jörg Kotterba.

Ungehaltene Wut auf die, denen es schlechter geht

Während viele Frankfurter uns noch sagten, daß man mit der Grenzöffnung doch so lange hätte warten sollen, bis sich die „Lage beruhigt“ habe, das heißt bis das Wohlstandsgefälle zwischen AL (Altländern) und FNL verschwunden wäre, plädieren Politiker wie der Berliner Ex- Innensenator Heinrich Lummer (CDU) inzwischen für eine neue Mauer, die allerdings nur den Durchgang von Ost nach West stoppen soll: „Freizügigkeit ist ein schöner Traum. Sie ist aber nur sinnvoll, wenn ein Mindestmaß an ökonomischer Gleichartigkeit zwischen den Ländern besteht. Sonst geht das zu Lasten der Wohlstandsregionen.“

Viele derer, die zum Teil auch die Grünen oder die SPD wählen, würden es weit von sich weisen, als potentielle Faschisten etikettiert zu werden. Zu sehr ist im öffentlichen Bewußtsein nur der „Faschist“, der „Heil Hitler“ ruft, rechtsextreme Parteien wählt, jüdische Grabsteine beschmiert und Ausländer angreift; daß die Denkbilder gerade derer, die sich immer als Opfer der anderen fühlen (wollen), latent faschistisch sind, begreifen nur wenige. Die meisten Menschen in der ehemaligen DDR haben tatsächlich den vollmundigen Äußerungen der CDU und den Hochglanzbroschüren, mit denen sie in der freien Marktwirtschaft begrüßt wurden, geglaubt. In den letzten Wochen sprachen wir mit keinem, der sich nicht betrogen gefühlt hätte. In der herrschenden Atmosphäre aus Angst, Unsicherheit und Aggressivität suhlen sich jedoch viele in einer passiven Opferrolle und reagieren mit ungehaltener Wut auf alle, denen es schlechter gehen könnte. Die meisten Bürger, mit denen wir sprachen, akzeptierten zwar, daß es ein Wohlstandsgefälle auch zwischen den FNL und Polen gäbe, daß es den Polen wirtschaftlich schlechter ginge, erklärten sich aber dennoch zu Opfern der Polen, die ihre Läden leerkaufen oder -klauen, die Straßen verstopfen, ihre Arbeitsplätze wegnehmen und jeden Kleinstgewinn so „umrubeln“ würden, daß sie in Polen gemachte Männer wären. Polen wollen „das schnelle Geschäft mit der Mark“ machen, hieß es so auch am 7. April recht deutlich in der 'Berliner Morgenpost‘, als wenn keiner der Deutschen, die bei den Polen billig kaufen, seinen Vorteil dabei hätte.

„Die campieren doch schon zu Tausenden auf der anderen Seite, warten dort, bis sie 'rüber können“, erzählt uns ein Rentner laut flüsternd, so als fürchte er, jemand würde lauschen. „Ab Montag kommen sie in ganzen Heerscharen, durchkämmen unsere Supermärkte, kaufen die Regale leer. Dann liegen sie in den Grünanlagen herum, überall, in der ganzen Stadt, und meine Tochter kann abends nicht mehr allein auf die Straße gehen!“ Der unauffällige Mittsechziger war nicht der einzige, der zur Beschreibung und Kommentierung der Situation Begriffe aus der Militärsprache entlehnte. Ein Journalist der Wochenzeitung 'Christ und Welt‘ weckt in seinem Bericht über die Festung Frankfurt, vor deren Toren die feindlichen Heere ihre Zelte aufgeschlagen haben, ganz ähnliche Assoziationen: „Stangenweise werden Zigaretten auf der steinernen Oderbrücke zwischen Frankfurt und Slubice angeboten; mehr noch auf dem sogenannten Grenzbasar, einer Ansammlung von einigen hundert primitiven Ständen und Hütten, etwa zwei Kilometer von der Brücke entfernt.“ Daß auf dem „Polenmarkt“ fast nur Deutsche einkaufen, ist in diesem beschriebenen Bild eigentlich nicht zu erkennen.

Künstliche Einheit durch Ausgrenzung der anderen

Obwohl wir in seiner Stadt genauso fremd sind wie die polnischen Nachbarn, redet der Frankfurter Rentner mit uns, ungefragt, monologisch und ohne Ende. Dieses redselige „Wir“- Gefühl verdankt seine Ursache vor allem der Einheit durch Abgrenzung. Sie äußert sich in Friedens- oder Vorkriegszeiten vielleicht nur als eine wortlos-stille Verachtung, wird aber seit ewigen Zeiten in der Kriegsführung systematisch genutzt, um die Tötungsbereitschaft der Soldaten zu fördern. In unterschiedlichen Graduierungen geht es eigentlich immer darum, „dem Feind“ seine Menschlichkeit abzusprechen, ihn auf die scheinbar natürlichen Negativeigenschaften seiner Nationalität zu reduzieren — subtil, im Scherz oder ganz offensiv. „Niemand wird ernstlich den Gedanken hegen, polnische Besucher kämen lediglich, um die landschaftlichen Reize oder architektonischen Schönheiten Berlins zu genießen“ — liest man zum Beispiel in einem Kommentar des Berliner 'Morgen‘. Andere Zeitungen setzen das Wort „Touristen“ — wenn polnische gemeint sind — in Anführungszeichen. Dies liest sich wie ein schriftliches Augenzwinkern dem deutschsprachigen Leser gegenüber, der versteht, daß es sich hier um einen Decknamen für Kriminelle handelt. Auf die rassistische Formel verkürzt, ist „polnisch“ ein anderes Wort für schmutzig, schlitzohrig und arbeitsscheu — also ziemlich exakt das Gegenteil der Charaktereigenschaften, mit denen sich Deutsche zu schmücken pflegen. Jedoch überläßt man es den Rechtsradikalen, die antipolnischen Klischees in Reinform zu verwenden, offen ausländerfeindliche Parolen zu gröhlen oder gar handgreiflich zu werden und Steine zu schmeißen. Solche Äußerungsformen erscheinen denen, die sich für zivilisiert halten, barbarisch und machen es einfach zu behaupten, daß der Durchschnittsbürger damit nichts zu tun hat. Er verachtet die Polen zwar, hält sich aber nicht für einen Rassisten. Im dörflichen Stadtteil Rosengarten zum Beispiel erzählt ein Gebrauchtwagenhändler, daß die Polen bei ihm mit Vorliebe die Trabis aufkaufen würden. Doppelte Verachtung für die Käufer schwingt in seinen Äußerungen mit, denn er kassiert von den Polen noch für das, was Deutsche weggeschmissen haben. Aber sein Händlerherz bleibt rein bei diesen Transaktionen, denn er schlägt die Polen, „das handelsfreudige Völkchen“ (Frankfurts stellvertretender Bürgermeister Ewerts, SPD), schließlich nur mit ihren eigenen Waffen.

Ein Gewissen so sauber wie der Boden in der Küche und das Hemd am Leib? Auch hier können ein paar zufällig gesammelte Beispiele zeigen, daß sich der Haß — des eigenen guten Rufs wegen — nur verschoben hat — von „dem Polen“ auf das, was er angeblich immer macht, nämlich Schmutz. Und Dreck zu beseitigen gehört zur obersten Pflicht der Hausfrau und des Politikers. In diesem Sinne äußert sich Innensenator Heckelmann in einem Interview mit dem 'Morgen‘: „...der Berliner Bevölkerung sind Belästigungen von bis zu 100.000 Polen-Besuchern am Wochenende nicht zuzumuten, die mit [...] unendlich viel Schmutz in bestimmten Stadtteilen einhergehen.“ Daß ins kleine, nur 17.000 Einwohner zählende Slubice beispielsweise am Wochenende vor Ostern 95.000 Besucher aus Deutschland kamen, erscheint niemandem eine Zumutung für die dortige Bevölkerung. War's ein Zufall, war's der böse Geist? — zeitgleich mit der Visafreiheit für Polen kündigt die PDS in Frankfurt eine große „Stadtreinigungsaktion“ an. In Putzlaune war vergangene Woche auch die 'Super- Illu‘ mit einem Bericht über „Die Russen-Sauerei von Bernau“. Titel und Text dieser Reportage legen eine Wesensverwandtschaft zwischen Sowjets und Polen nahe.

„Im Keim ersticken“

Besonders brutal und aggressiv wird die Sprache, wo es um Prävention und Gegenmaßnahmen geht. Nicht nur Politiker, Polizisten und Verkehrsteilnehmer fordern die Kanalisierung (Stauvermeidung) der polnischen Einreiseflut. So veröffentlichte der 'Oderanzeiger‘ zum Beispiel den Brief einer Immobilienverwaltung an Brandenburgs Ministerpräsident Stolpe, in dem vorgeschlagen wird, einen Polenmarkt in einem Außenbezirks Frankfurts zu errichten, wo sich nebenbei noch „ein Batzen Geld“ verdienen lasse: „Der Handel“, so freut sich der Kommentator, „wäre also kanalisiert und damit für Sicherheitskräften überschaubar.“ Solch handelstüchtigen Überlegungen ist man in Berlin eher abgeneigt. Eventuell neu entstehende „Polenmärkte“ müßten, so erklärte Berlins Innensenator Heckelmann im Kammerjägerjargon, „im Keim erstickt werden“.

Nicht an den Überfall auf Polen, an Dörfer wie Lidice, die die Nationalsozialisten dem Erdboden gleichmachten, deren Bevölkerung ausgerottet wurde, denkt man in Deutschland, wenn von dem, durch die „Vergangenheit belasteten“, Verhältnis der beiden Völker die Rede ist. Wo die Erinnerung an das Naziregime zur ungeliebten Pflichtübung geworden ist, beschwören die Politiker, Medien und Bürger inzwischen bildreich die Schrecken von dem „Polenansturm“ 1989: „...Verkehrsbehinderungen, Dreck auf den Straßen, Unrat in Hausfluren und Grünanlagen — die Grenze des noch Erträglichen war da oft weit überschritten.“ ('Berliner Morgenpost‘) Nicht nur in Bonn weisen Politiker darauf hin, „daß die polnischen Gäste es selbst in der Hand haben, mit ihrem Verhalten den Annäherungsprozeß in Europa zu fördern oder nicht“. Auch der polnische Präsident Lech Walesa empfindet das Recht seiner Landsleute auf die visafreie Einreise in mehrere westeuropäische Staaten offensichtlich als einen widerrufbaren Gnadenakt der EG: „Wenn es irgendwo, in Frankreich oder anderswo, die geringsten Störungen gibt, werden wir diesem Prozeß ein Ende setzen.“