KOMMENTARE
: Abschied von einfachen Weltbildern

■ Der Iran und die Aufnahme kurdischer Flüchtlinge

Man stelle sich die Szenerie vor: Millionen Flüchtlinge in einem Land, das wegen einer Überschwemmung und einem Erdbeben mit Hunderttausenden von Obdachslosen fertig werden müßte. Hinzu kämen etwa vier Millionen aus dem letzten Krieg, die als Flüchtlinge im eigenen Lande leben. Und gerade aus dem einstigen Feindesland kämen zusätzlich binnen kurzer Zeit 1,5 Millionen Zufluchtsuchende. Wie würde sich in einer solchen Situation Volkes Stimme anhören, wie viele innenpolitische Sprecher jedweder Couleur würden mit dem Satz hausieren gehen: „Das Boot ist voll“? Wie groß wären die Schlagzeilen über „Asylantenschwemme“ und „Schmarotzertum“? Wie viele Michael Kühnens stünden an der Grenze, kampfbereit?

Etwa drei Millionen Afghanen leben heute im Iran, es hat im Sommer im Norden ein verheerendes Erdbeben und im Winter im Süden eine katastrophale Überschwemmung gegeben. Vier Millionen Iraner aus den Grenzgebieten zum Irak konnten bis jetzt nicht nach Hause zurückkehren. Umso erstaunlicher ist es, mit welcher Hilfsbereitschaft jetzt die Flüchtlinge aus dem Irak aufgenommen werden. In fast jeder iranischen Stadt wurden Sammelstellen für Spenden eingerichtet. Täglich kommen aus den verschiedenen Teilen des Landes Karawanen mit Hilfsgütern an. Doch die Not ist unvorstellbar groß. Würde jeder Flüchtling nur 100 Gramm Nahrungsmittel erhalten, wären zweihundert Tonnen täglich notwendig. Die Deutschen haben bis jetzt etwa 120 Tonnen geliefert, noch nicht mal ausreichend für einen einzigen Tag.

Wie die iranischen Medien mit diesem Thema umgehen, ist beispielhaft. Man mag einwenden, die Mullahs verfolgten mit der demonstrativen Hilfsbereitschaft ein machtpolitisches Ziel. Doch das Gegenteil ist der Fall: Mit der Flüchtlingswelle kann sich die Kurdenproblematik auch im Iran verschärfen. Außerdem ist die Hilfsbereitschaft für die Kurden nicht von oben angeordnet, sie kommt von ganz unten. — Kaum vorstellbar, daß es acht Jahre lang einen mörderischen Krieg zwischen beiden Ländern gegeben hat. Wenn daraus etwas zu lernen ist, dann dies: Die Kriege werden von den Regierenden und nicht von den Völkern gewollt und geführt. Diese Tragödie zeigt aber auch, daß der Orient und der Islam nicht mit Barbarei und Menschenverachtung gleichgesetzt werden dürfen. Die heilige Stadt Qom, das Zentrum des schiitischen Fundamentalismus, bereitet sich dieser Tage darauf vor, 50.000 kurdische Sunniten aufzunehmen. Von vielen einfachen Weltbildern wird man Abschied nehmen müssen. Ali Sadrzadeh