INTERVIEW
: „Herrenloses Schriftgut“

■ Der Präsident des Bundesarchivs, Friedrich Kahlenberg, und der dienstälteste Archivar in Potsdam, Wolfgang Merker, über die Schwierigkeiten mit den Aktenmassen der ehemaligen DDR

taz: Es gibt eine Initiative von Historikern, die Behördenakten der ehemaligen DDR vorzeitig für die Forschung zu öffnen, also die 30jährige Sperrfrist, die im Bundesarchivgesetz vorgesehen ist, in diesem Ausnahmefall nicht gelten zu lassen. Was halten Sie davon?

Wolfang Merker: Insgesamt geht es darum, die Voraussetzungen zu schaffen, um an einer wichtigen Bruchstelle der deutschen Geschichte umfassend Bilanz ziehen zu können. Insofern sind diese Fragen auch von der Gesetzgebung her noch einmal zu durchdenken.

Friedrich Kahlenberg: Aufgrund der vielfältigen Initiativen und Anregungen, die das Bundesarchiv zum Thema „Sperrfrist“ erhalten hat, haben wir dem Bundesinnenminister vorgeschlagen, eine Anhörung zu machen. Wir wollen dazu Historiker — insbesondere auch aus den neuen Ländern — einladen, ihre unterschiedlichen Meinungen darzulegen, und wir wollen versuchen, ein zuverlässiges Bild über die Bedürfnisse zu gewinnen. Meine persönliche Meinung ist derzeit, daß wir von der Möglichkeit, die Schutzfristen herabzusetzen, großzügiger Gebrauch machen sollten als wir dies bisher getan haben.

Aber die juristischen und methodischen Probleme reichen doch weiter. Es könnte sich eine Situation entwickeln, daß die Sperrfristen für Unterlagen der ehemaligen DDR —egal wie das gesetzlich geregelt wird— jedenfalls faktisch weitgehend herabgesetzt werden und gleichzeitig für entsprechende Unterlagen in der alten Bundesrepublik die alte 30jährige Sperrfrist stramm gilt. Wie sollen denn die früher so genannten innerdeutschen Beziehungen vernünftig und gerecht untersucht werden, wenn man nur die Akten ehemaliger DDR-Behörden einsehen kann, nicht die aus der alten Bundesrepublik? Das muß in der Darstellung und Analyse zu Verzerrungen führen, über die spätere Generationen kopfschüttelnd lächeln werden.

Kahlenberg: Das ist richtig. Es geht aber nicht nur um methodische, sondern auch um politische Implikationen. Daher bin ich daran interessiert, dies im Rahmen einer öffentlichen Anhörung sichtbar zu machen. Wenn man, wie das Historiker in der ehemaligen DDR pointiert wollen, die Sperrfristen für Schriftgut aus der früheren DDR verkürzen würde, muß das bei entsprechend angelegten Fragestellungen auch Folgen haben für Ausnahmegenehmigungen zur Benutzung von Unterlagen der alten Bundesrepublik.

Wäre es da nicht sinnvoll, die Frage der Sperrfristen insgesamt noch einmal zur Debatte zu stellen und sie generell zu verkürzen oder aufzuheben?

Kahlenberg: Die Problematik ist altbekannt. Der „Freedom of Information Act“ in den USA stehen sehr ausführliche Kataloge langfristig gesperrter Akten entgegen. Die unterschiedlichen Informations- und Schutzinteressen müssen sich nicht nur zwischen Bürgern und Staat, sondern auch zwischen einzelnen Interessen unterschiedlicher Gruppierungen von Bürgern gegenseitig einpendeln. Außerdem sind mögliche negative Konsequenzen zu bedenken: In Schweden wurden Anfang der 60er Jahre die Schutzfristen generell aufgehoben, das führte aber — wie uns schwedische Kollegen berichten — dazu, daß sich staatliche Akten entleerten. Wichtige Aufzeichnungen über den Ablauf von Entscheidungsbildungen wurden einfach nicht mehr zu den Akten geheftet. Das kann nicht im Interesse von Archivaren und Archivbenutzern liegen, das liegt auch nicht im Interesse demokratischer Kontrolle.

Für das staatliche Schriftgut der ehemaligen DDR sind die Regelungen klar. Was aber geschieht mit den Unterlagen von Parteien und Massenorganisationen?

Merker: Gegenwärtig sind wir bis an die Grenzen unserer Belastbarkeit mit der Sicherung staatlicher Aktenüberlieferung beschäftigt. Uns wird aber auch sehr viel Material aus dem nicht-staatlichen Bereich angeboten. Wir haben Akten des Nationalrates übernommen, der Nationaldemokratischen Partei, des Friedensrates und anderer mehr oder weniger bedeutender Organisationen. Was die ganze SED/PDS-Problematik betrifft, ist aufgrund der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung der DDR die öffentliche Funktion der SED zu sehen: Faktisch waren die Parteiführungsorgane Verfassungsorgane, entsprechend waren Staats- und Parteifunktionen miteinander verflochten. Dem entsprach die inhaltliche Entleerung staatlicher Behördenakten zugunsten der Parteiakten. Mit der Anbindung zentralstaatlicher Institutionen an die Parteiführung entstanden — am Ministerrat vorbei — Sonderverwaltungsstränge, etwa für den Staatssicherheitsdienst, die Justiz, die Polizei, den Zoll usw.

Wo sind die SED-Akten derzeit?

Merker: Sie sind im PDS-Archiv, bzw. in Bezirks-Parteiarchiven. Diese Archive unterstehen aber nicht dem Parteivorstand der PDS, sondern dem Institut für die Geschichte der Arbeiterbewegung.

Wenn ich Sie richtig verstehe, sagen Sie: Da die SED auch verfassungsrechtlich eine derart zentrale staatliche Stellung besaß, handelt es sich bei ihrem schriftlichen „Erbe“ faktisch um Staatsakten, die eigentlich in staatliche Archive gehören.

Kahlenberg: Ich darf dazu auf die mir durch die Presse bekanntgewordene Vereinbarung der Bonner Koalitionsparteien verweisen. Sie haben sich vorgenommen, für die Sicherung der SED-Überlieferung eine Ergänzung des Bundesarchivgesetzes einzubringen. Wohin das genau geht, kann ich nicht sagen.

Ist denn gewährleistet, daß die SED-Akten derzeit so erhalten bleiben wie sie sind und auch benutzt werden können?

Merker: Ja, es werden jetzt — im Gegensatz zu früher — Findhilfsmittel vorgelegt. Unterlagen über die Sitzungen des Parteivorstandes, des Zentralsekretariats der SED bis 1950 und dann auch des Politbüros können nun eingesehen werden. Dies bestätigen die Leiterin des Archivs und Nutzer, die bei uns entsprechende staatliche Materialien suchen.

Wenn sich, was ja selten genug geschieht, ein Staat auflöst, fallen ungeheure Mengen von Schriftgut an. Wie wollen Sie das überhaupt sinnvoll ordnen, katalogisieren, zugänglich machen?

Kahlenberg: Die Sicherung hat absolute Priorität. Unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind permanent unterwegs, um die herrenlos gewordene Überlieferung rechtzeitig zu sichern und zu übernehmen. Noch unter der alten Regie wurde ein zentrales Zwischenarchiv eingerichtet. Das ist heute unsere Dienststelle in Berlin Ruschestraße, Haus 7. Es ist ein eminentes Arbeitsprogramm erforderlich, diese Unterlagen zu erschließen und unter normalen Bedingungen zugänglich zu machen. Archivare brauchen dazu eine gewisse Zeit — auch das gehört zur Diskussion der Sperrfristen.

Vermutlich werden nicht alle Unterlagen der ehemaligen DDR zu Archivschriftgut, viele werden möglicherweise von Bundesbehörden übernommen und weiterbenutzt. Wo sind die Registraturen des früheren DDR-Innenministeriums?

Merker: Nach den Regelungen des Staatsvertrages in Artikel 13 wird selbstverständlich ein Teil der alten Registraturen von den Bundesbehörden zurückgehalten und benutzt, das gilt nicht nur für das Innenministerium, sondern auch für die Justiz, Schulverwaltung, Länderbehörden, Post etc. Das ist notwendig und unvermeidbar.

Kahlenberg: Nur zu den Größenordnungen: Im Verlauf der 41jährigen DDR-Geschichte hatte das damalige Zentrale Staatsarchiv 20 laufende Regalkilometer staatlicher Akten übernommen. In den letzten Monaten sind 40 Regalkilometer hinzugekommen... Interview: Götz Aly