: Verhandlungsmarathon in Tokio
Gorbatschow und Kaifu erlangen keine Einigung in der Kurilenfrage/ Nach Gerüchten über vorzeitigen Abbruch des Gorbatschow-Besuchs doch noch gemeinsames Schlußkommuniqué ■ Aus Tokio Georg Blume
Gegen 22 Uhr Ortszeit wollten sich der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow und der japanische Ministerpräsident Toshiki Kaifu gestern abend ein sechstes — und voraussichtlich letztes — Mal an den Verhandlungstisch setzen. Zeit und Umstand solcher Mitternachtdiplomatie verraten bereits die unerwartete Dramatik, zu der die Gespräche zwischen den beiden Großmächten Ostasiens gestern aufliefen. Denn ursprünglich waren nur drei Verhandlungsgänge geplant, damit die Regierungschefs aus Moskau und Tokio zur Einigung darüber gelangen, wie beide Länder in Zukunft mit ihrem Streit über die vier von Japan beanspruchten Kurileninseln umgehen wollen. Doch wider Erwarten fiel den diplomatischen Profis beider Seiten sogar das Austüfteln einer rettenden Kompromißformel schwer.
Erst nach siebenstündigen Gesprächen kamen Gorbatschow und Kaifu gestern überein, ein von langer Hand vorbereitetes, dann aber wieder gefährdetes gemeinsames Abschlußkommuniqué zu veröffentlichen. Darin soll es nun heißen, daß sich beide Seiten bemühen werden, den die vier Kurileninseln betreffenden Territorialstreit zwischen Moskau und Tokio im Sinne einer Verbesserung der Beziehungen zu lösen. Erstmals würde die sowjetische Regierung damit die schlichte Existenz eines Territorialstreits mit Japan anerkennen. Bisher hatte sich Moskau strikt geweigert, die bereits 1945 von Stalin annektierten Kurileninseln zum Verhandlungsgegenstand zu machen. Gorbatschow dürfte nur dann zu einem solchen Zugeständnis bereit gewesen sein, wenn Japan gleichzeitig die bisherige Totalblockierung der wirtschaftlichen Kooperation zwischen beiden Ländern zumindest teilweise aufhebt.
Japanische Wirtschaftsführer hatten sich in den vergangenen Tagen erneut für eine vorsichtige Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der Sowjetunion ausgesprochen. Doch die Parteispitze der regierenden Liberaldemokraten (LDP) hatte erst am Donnerstag morgen eine, wie es schien kompromißlose Verhandlungslinie ausgegeben. Falls sich die Sowjetunion nicht bereit erkläre, zu einer gemeinsamen Erklärung beider Länder von 1956 zurückzukehren, in der Moskau die Rückgabe von zwei der umstrittenen vier Kurileninseln zusichert, dann sähe die japanische Regierung keine Möglichkeit, eine gemeinsame Erklärung abzugeben — so beteuerten die LDP- Verantwortlichen. Gorbatschow, so lautete es von seiten der Regierungspartei, vertrete eine „unklare Haltung“. Für die japanische Regierung seien Fortschritte nur dann absehbar, wenn die Sowjetunion grundsätzlich die japanischen Ansprüche auf vier Kurileninseln anerkenne.
Noch zur Mittagsstunde in Tokio stellte sich der Vize-Generalsekretär der Regierungspartei, Takayuki Sato, vor die Mikrofone und erklärte: „Die Medien haben zu große Erwartungen geweckt.“ Inzwischen hatte auch Premier Kaifu seiner Verärgerung über die angeblich unveränderte sowjetische Verhandlungsposition unter Parteikollegen Luft gemacht. Zu dieser Zeit kursierte auch das Gerücht, Gorbatschow werde seinen Besuch möglicherweise noch am Donnerstag vorzeitig abbrechen. Raissa Gorbatschow hatte bereits am Vormittag ihr Besuchsprogramm kürzen lassen.
Einem vielversprechenden Staatsbesuch mit historischem Charakter — Gorbatschow ist der erste Kreml-Chef auf Nippon-Visite — wäre damit beinah ein für die Zeit nach dem Kalten Krieg geradezu unvorstellbares Ende bereitet worden. Bereits am Mittwoch, als Gorbatschow vor Studenten sprach, war spürbar gewesen, wie hartnäckig das politische Establishment in Tokio, zu dem die auserwählten Zuhörer bereits zählten, ihre Inselansprüche verteidigt. Enttäuschung und Unzufriedenheit demonstrierten die Studenten, nachdem ihnen Gorbatschow eine brillante Darstellung der Weltlage, aber keine neuen Erkenntnisse über Japans nördliche Inseln geliefert hatte. „Er kommt zu spät und noch dazu mit leeren Händen“, spottete ein Zweitsemestler.
Nicht viel anders verhielt sich Ministerpräsident Toshiki Kaifu während seiner Gespräche mit Gorbatschow. Zwischen den Verhandlungsrunden mußte der im Polit- Theater der Liberaldemokraten als Außenseiter geltende Premier die Befehle seiner Parteioberen anhören, die ihm sagten, auf nichts anderem als auf der Rückgabe der Inseln zu beharren. Allein dieser Mechanismus der japanischen Politik, der es keinem Regierungschef in Verhandlungen erlaubt, eigenständig Kompromisse zu schließen, dürften Michail Gorbatschows Verhandlungskünste gestern überfordert haben. Zumal er selbst aus innenpolitischen Gründen über wenig Spielraum verfügte.
Es bleibt abzuwarten, wie Michail Gorbatschow die Verhandlungsergebnisse im eigenen Land verkauft. Möglicherweise könnte er nun darauf bestehen, daß die Hardliner in der eigenen Partei ihre Kurilenliebe relativieren. Dagegen ist in Tokio kaum ein weiteres Einlenken absehbar. Das „asiatische Helsinki“, von dem Gorbatschow am Mittwoch noch sprach, war damit schon einen Tag später wieder in weite Ferne gerückt.
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