Scharping hat jetzt die Qual der Wahl

■ Bei der seit über vier Jahrzehnten in Mainz regierenden CDU saß der Schock über den Sturz ins Nichts auch am Montag noch tief. Ob es an der "Tandem"-Lösung oder an der Vergreisung lag auf jeden Fall

Scharping hat jetzt die Qual der Wahl Bei der seit über vier Jahrzehnten in Mainz regierenden CDU saß der Schock über den Sturz ins Nichts auch am Montag noch tief. Ob es an der „Tandem“-Lösung oder an der Vergreisung lag — auf jeden Fall forderte Alt-Generalsekretär Geißler Konsequenzen, eine Diskussion über Inhalte, Format und Profil der Union. Der designierte rheinlandpfälzische Ministerpräsident Scharping hat nach seinem klaren Wahlsieg sowohl den Liberalen als auch den Grünen schnellstmöglich Koalitionsgespräche angeboten.

Eigens in den Spiegelsaal des Mainzer Schlosses hatte Rudolf Scharping Presse und Parteivorstand gestern geladen. Der rheinland-pfälzische SPD-Landeschef und künftige Ministerpräsident hatte allen Grund zur königlichen Freude: Außer dem klaren Sieg bei den Zweitstimmen (44,8 Prozent) holten die Genossen fast drei Viertel der Direktmandate: 37 von 51. Selbst CDU-Ministerpräsident Carl-Ludwig Wagner und CDU-Landeschef Hans-Otto Wilhelm unterlagen in ihren Wahlkreisen — Wilhelm sogar gegen einen sozialdemokratischen Nobody.

Rudolf Scharping legte gestern seine Marschroute für diese und die nächsten Wochen fest. Besonders eilig hat er's, mit Ministerpräsident Wagner die Übergabe der Amtsgeschäfte zu klären. Weder soll die amtierende Regierung aus CDU und FDP neue finanzielle Verpflichtungen eingehen noch Sach- oder Personalentscheidungen treffen, die über das Datum des Regierungswechsels am 21. Mai hinausgehen. Dem verfilzten, zumeist nach CDU-Parteibuch besetzten Mainzer Beamtenapparat will Scharping zunächst Vertrauen schenken, „es sei denn, daß er das Gegenteil beweist“. GenossInnen befürchten indes Durchstechereien aus den Ministerien. Dann wisse, so graut es ihnen, die CDU in der Opposition stets früher als die Regierung, wo's im Lande brennt, und könne dies in der Presse ausschlachten.

Scharping wiederholte seine Gesprächsbereitschaft gegenüber FDP und Grünen. Bereits in der Wahlnacht zeichnete sich jedoch klar ab, daß die eher konservative Landes- SPD derzeit die FDP als Partner bevorzugt. Scharping ist an einer stabilen Regierungsmehrheit gelegen. Er will 1996, nach seinen ersten fünf Amtsjahren, die SPD-Mehrheit weiter festigen. Dies trauen ihm selbst eingefleischte Christdemokraten an der Seite der FDP auch zu: „Wenn es zu Rot-Grün kommt“, stöhnte ein CDU-Mann in der Wahlnacht, „dann sind wir in fünf Jahren wieder dran. Aber wenn Scharping mit der FDP zusammengeht, sind wir die nächsten fünfzehn Jahre weg vom Fenster.“

Ein rot-grünes Bündnis, so äußerten Vertraute Scharpings, berge das Risiko eines Rückschlags. Rheinland-Pfalz sei nicht Hessen, seine konservativen Strukturen ließen ein Mitregieren der Grünen nicht zu. Und weiter: „Koalitionspartner sind keine Frage der Sympathie.“

Jusos drängen auf Koalition mit Grünen

Gegen Scharpings Skepsis wächst indes der Widerstand in der Partei. Die Jusos skandierten schon am Wahlabend rot-grüne Slogans. Der Juso- Landesvorsitzende Jörg Kukies wertete die Wahl als „deutliches Signal für eine neue, mehr an ökologischen und sozialen Kriterien orientierte Politik“. Die Sozialdemokraten sollten „mit den Grünen den Schritt zur Veränderung wagen, nicht mit der CDU“.

Ebenso klar bezog gestern auch der DGB-Landesbezirk Position. Ein rot-grünes Bündnis, so erfuhr die taz, entspreche von „programmatischen Gesichtspunkten“ her den Positionen der Gewerkschaften viel mehr als ein Bündnis mit der FDP. Die FDP wird von den Gewerkschaften sogar als „Bremser“ gesehen. So kann das „grüne“ Engagement, vor allem des DGB-Landesbezirkschefs Dieter Kretschmer, in der SPD einen Sinneswandel in Richtung „Rot- Grün“ auslösen.

Die Grünen vernehmen die Botschaft derzeit wohl, nur: ihnen fehlt's an Glauben. Nach dem Freudenschock, künftig sieben statt fünf Abgeordnete im Landtag zu stellen, kam bald die Ernüchterung: „Was nun?“ Fanden sich einige Grüne am Wahlabend schon mit einer Oppositionellenrolle ab, so ging gestern ein Ruck durch die Partei. Trotz ihrer frappierend dünnen Personaldecke bereiten die Grünen ein Koalitionsangebot an die SPD vor. Erste Überraschung: Der Abgeordnete Gernot Rotter, bislang Abrüstungsexperte der Grünen-Fraktion, will Mainz nicht mehr wie geplant verlassen. Er stehe für ein Regierungsamt zur Verfügung, ließ Fraktionssprecher Bernd-Olaf Hagedorn gestern wissen. Zwar ist Rotter innerhalb der Grünen umstritten, doch der SPD könnte sein Bleiben als positives Signal gelten. Zweite Überraschung: Die Grünen-Spitzenkandidatin Gisela Bill soll nach dem Willen ihrer Partei ein neu zu schaffendes „angereichertes Frauenministerium“ übernehmen. Darin sollen alle Frauen betreffenden Kompetenzen aus verschiedenen Ministerien gebündelt werden.

Richtungsstreit bei den Liberalen

Außer bei Abrüstung und Frauen wollen die Grünen auch in Umweltfragen mitreden. Als etwaiger Umweltminister ist der Soziologe Wolf Schluchter im Gespräch. Er stößt jedoch als Realo und Grünen-Reformer bei der Basis auf Unmut. Die Frage wird sein, ob der Wahlfriede zwischen Basis und Realos diese Woche überdauert oder ob eine mögliche Koalition am Provinzfundamentalismus scheitert.

Auch in der FDP wird es Richtungsstreit geben. FDP-Chef Brüderle war schlecht beraten, sich so klar auf die CDU festzulegen. Ob die Partei nun umschwenkt, ist keineswegs klar. Falls sie es tut, ist davon auszugehen, daß Brüderle bei Koalitionsverhandlungen mit der SPD die beiden bisherigen FDP-Ressorts Wirtschaft und Justiz besetzen will. Dagegen aber hat die SPD eigene Personalvorstellungen. Gerade auf dem Posten des Wirtschaftsministers hatte Scharping einen hochkarätigen

Wirtschaftsmanager vorgesehen: Jürgen Olschewski, einst Chef bei Nixdorf, heute beim High-Tech- Konzern Nokia Data (Umsatz 250 Millionen Mark). An seinem Zugpferd Olschewski, sagen GenossInnen, wolle Scharping unbedingt festhalten. Der Ausweg: Der SPD-Chef plant den Umbau des Agrarministeriums in ein „Strukturministerium für den ländlichen Raum“. Dieses Ministerium soll über umfassende Kompetenzen zur Strukturstärkung des Landes verfügen. Das Prestige, Rheinland-Pfalz aufzupäppeln, dürfte auch Manager Olschewski nicht kalt lassen, zumal er als Wirtschaftsminister im Rahmen der EG sowieso Einfluß einbüßen würde.

Ihren Einfluß noch längst nicht eingebüßt hat dagegen die CDU. Der Filz in der Pfalz und anderswo im Land wird noch Folgen haben. Sicher, derzeit ist den Christdemokraten eher zum Verkriechen zumute. Und vor allem: Seit dem Wahldebakel sind die alten Keilereien wieder losgegangen. Schon am Wahlabend ein ungewohntes Bild: CDU-Ministerpräsident Wagner und CDU- Landeschef steigen durchs Hinterfenster in den Landtagssaal, um der Presse Rede und Antwort zu stehen. Ihre Köpfe glühen. Lächeln können sie nur noch auf ihren Plakaten. Sie nehmen Platz, jedoch nicht nebeneinander. Wagner muß an den Rand, Wilhelm in die Mitte.

Wilhelm sitzt die Niederlage in den Knochen. Er antwortet wortkarg. Ob er nach dem Debakel an Rücktritt denke? „Nein“. Nach einigen Bedenksekunden preßt er mit Galgenhumor hervor: „Wenn uns schon die Wähler davonlaufen, kann ich das nicht auch noch tun.“ Es hat mächtig geklirrt im Porzellanladen der CDU, in dem sich Wilhelm nach Ansicht einiger seiner „Parteifreunde“ bewegt hat wie ein Elefant. In ähnlicher Manier schwärzte noch in der Wahlnacht der Mainzer CDU- Bundestagsabgeordnete Johannes Gerster die Spitze der Landes-CDU an. Bundesweit stehe die christliberale Koalition mit einer stabilen Regierungsmehrheit da. Der Einbruch in Rheinland-Pfalz müsse also „landesspezifische“ Gründe haben. Die Schuld sei nicht allein Bonn und dem Kanzler zuzuschieben. Wilhelms Reaktion auf Gersters Worte: das sei eine Einzelmeinung, auf die er nicht viel gebe.

Weit gefehlt! Das werden Wilhelm und Wagner spätestens seit gestern schmerzhaft vernommen haben. Aus dem Bundesvorstand jedenfalls war zu vernehmen, daß außer der Bundespolitik auch die Landes-CDU selbst für die Niederlage verantwortlich zu machen ist. Vor allem unter drei Gesichtspunkten:

1. Landeschef Wilhelm habe die Tandem-Lösung „nicht richtig verstanden“. Zwar galt Wagner als erster Kandidat, den Wilhelm 1992 ablösen sollte. Doch habe man immer den Eindruck gehabt, daß Wagner unter dem Druck seines Nachfolgers gestanden habe.

2. Die Wunden, die 1988 bei der Kampfabstimmung gegen den damaligen CDU-Landeschef und Ministerpräsidenten Bernhard Vogel gerissen wurden, seien eben doch noch nicht verheilt.

3. Die CDU Rheinland-Pfalz leide nach 44 Jahren an der Regierung unter „Verschleiß“, sie habe den Verjüngungsprozeß in der Partei „zu lange verschleppt“.

Schlechtes Zeugnis für Generalsekretär Rühe

Ähnlich niederschmetternde Urteile sind auch an der Basis zu hören. Ein CDU-Mann aus Ludwigshafen: „Katastrophal... Was soll man da sonst noch sagen. Wir wollen jetzt erst mal in Ruhe überlegen, wie's weitergeht.“ Ein CDU-Abgeordneter aus Germersheim griff CDU-Generalsekretär Rühe heftig an: „Heiner Geißler war bei Wahlen immer da. Aber wo war Rühe. Wir wußten gleich, er wird ein schlechter Generalsekretär.“ Der Schock kam für viele Parteigänger in Germersheim aus heiterem Himmel: der CDU-Stadtverband hatte die Umfrageergebnisse zurückgehalten, um die Mitglieder nicht zu entmutigen. Nun kam's zu einem bösen Erwachen. Ein CDU-Mann aus Speyer: „Noch wurden Fragen nach personellen Konsequenzen nicht gestellt...“

Aber Wilhelms Position als Landeschef ist nicht mehr ungefährdet, als Nachfolger wird CDU-Innenminister Rudi Geil gehandelt. Was aus Wagner wird, weiß niemand so recht. Ein Trierer CDU-Abgeordneter dazu: „Wir gehen davon aus, daß Wagner sein Landtagsmandat, das er über die Liste bekommen hat, nicht mehr in Anspruch nimmt.“ Der Don Quichotte der Mainzer CDU-Regierung stand, so sieht man's auch im CDU-Bundesvorstand, unter dem stetem „Druck“ des CDU-Landeschefs Wilhelm. Seine Stellung war deswegen so schwach, weil er nach dem Abschuß Bernhard Vogels lediglich als Kompromißkandidat zu Amt und Ehren kam. Bereits im Sommer letzten Jahres sah es so aus, als würde er von seinem Posten weggelobt. Aber zwei Ministerpräsidenten in zwei Jahren zu schassen — das hätte Wilhelm zeitlebens als Brutus abgestempelt.

Trotz der schwelenden Querelen in der CDU warnten Christdemokraten an der Basis gestern vor offenen Auseinandersetzungen. In Trier hieß es dazu: „Einen neuen Streit um Personalfragen würde die Partei nicht mehr verkraften. Wer ein bißchen Vernunft bewahrt hat, weiß das!“ Ruhe muß auch erst wieder ins Verhältnis zwischen SPD und CDU einkehren. Scharping klang am Wahlabend versöhnlich. Wilhelm dagegen motzte: „Nach einem solchen Wahlkampf — mit der Lüge über die Lüge — kann ich nicht so ohne weiteres zur Tagesordnung übergehen.“ Joachim Weidemann, Mainz