Da, da, ein Mensch am Horizont

■ Schon einmal strebten um die Jahrhundertwende viele Ausländer nach Berlin/ Wie Witold Gombrowicz und andere Polen die Stadt wahrnahmen/ Die polnische Gemeinde: eine lange Geschichte mit vorläufigem Abschluß in der neuen Visumsfreiheit

»Ich landete auf dem Flugplatz Tegel in Berlin, vor einem Jahr, am sechzehnten Mai. Professor von Bomhard, Repräsentant der Ford-Stiftung placierte mich zusammen mit den Koffern in ein Auto, ein schönes, schwarzes, und fuhr mich durch die Stadt. Ich — ein Koffer mehr. [...]

Ingeborg Bachmann, eine Dichterin aus Österreich, gleichfalls von Ford eingeladen und in derselben Akademie der Künste wohnend, war die erste Person, mit der ich mich befreundete. Wir spazierten, beide etwas verwundert oder betört von dieser Insel (in einem kommunistischen Ozean), oder vielleicht von etwas anderem, wir sahen nicht viel, beinahe nichts, ich entsinne mich, daß mich die Menschenleere in Berlin erstaunte: wenn irgendwo in der Ferne jemand erschien, riefen wir: ‘Da, da, ein Mensch am Horizont!‚ An fremden entlegenen Orten befällt einen eine gewisse Schwierigkeit des Sehens, des Erkennens. [...] Nach einer Woche wurde ich gewahr, daß es dennoch recht viele Leute gibt in Berlin.«

Witold Gombrowicz, Dichter, Philosoph, Pole, hatte den fremden Blick. Als 35jähriger bei einer Südamerikareise vom Überfall Hitlers auf Polen überrascht, überwinterte er während der Schreckensjahre der Nazis in Argentinien. Sehr viel später, von 1963 bis 1964, wagte er sich nach Berlin, um zu sehen, zu staunen, zu beschreiben: Das also war das Zentrum der Barbarei gewesen.

Deutsche und Polen: Historisch und geographisch waren sie sich immer nah gewesen, immer schon hatten sich beide Völker gemischt. Warum bloß soviel blutiger Haß in der Geschichte? Weil ihre Mentalitäten so verschieden sind? Das allein kann es nicht erklären.

Als die Germanen noch die Keule schwangen, saßen die Polanie und andere slawische Stämme bereits in ihrem ersten Staat. Ihr cleverer Häuptling Mieszko ließ sich 966 n. Chr. mit kaltem Wasser begießen. So zum Christentum bekehrt, blieb sein Herrschaftsgebiet von der Zwangschristianisierung durch das Römische oder das Kiewer Reich verschont. Der zweite Effekt: Staat und Religion, Nationalismus und Katholizismus wurden unzertrennlich in Polen. Denn selbstverständlich ließ Mieszko seine Untertanen mitchristianisieren. Die Auswirkungen dieses Aktes spüren wir noch heute, unter anderem sitzen sie unter dem Namen Woytila in Rom.

Der katholische Nationalismus erstarkte aber auch deshalb so sehr, weil Polen immer wieder zum Spielball größerer Mächte wurde. Zwischen 1772 und 1795 verschwand es ganz von der Bildfläche, als sich zuerst Preußen, dann Österreich und zuletzt Rußland polnisches Gebiet in Stücke rissen und verschluckten.

Eine riesige Auswanderungswelle erstreckte sich über das 19. und den Beginn des 20. Jahrhunderts: Beinahe eine Million Menschen emigrierte aus ihrer Heimat. Zehntausende suchten in New York ihr neues Glück, Zehntausende in den westdeutschen Bergbaugebieten, Zehntausende in Berlin. Neben Dresden wurde Berlin zur ältesten Agglomeration polnischer Auswanderer, Wissenschaftler und Künstler. Einer der ersten von bald über 300 Vereinen, die die polnische Gemeinde Berlins gründete, hieß 1817 »Freundschaftsverein« — ein Hoffnungszeichen. Später kam ein »Verein der Bäcker« hinzu, eine »Konferenz des Heiligen Jan Kanty«, ein »polnisch-katholischer Verein Lech«, ein Gesangsverein »Echo in Neukölln«, ein »Verein der Polinnen unter der Obhut des Heiligen Josef in Berlin« und viele deutsch-katholische Arbeitervereine. In denen näherten sich die Nationalitäten an, sodaß die 1897 gegründete polnischsprachige Zeitung 'Dziennik Berlinski‘ sich bemüßigt fühlte zu mahnen: »Hunderte, ja Tausende von Polen haben in Berlin die deutschen Reihen vergrößert, und vor unseren Augen findet fortwährend eine Umgestaltung solcher unerfahrenen Polen zu Deutschen statt.« Die 'Dziennik Berlinski‘ alias 'Berliner Tageszeitung‘, die trotz gleichen Namens eine völlig andere politische Ausrichtung und ungleich mehr Auflagenprobleme als die taz hatte und über 2.000 oder 3.000 Abonnenten nie hinauskam, fand diese Assimilierung gar nicht gut. Zu den moralischen Pflichten der Berliner Polen gehöre es, befand sie, den Nationalismus zu erhalten — auch angesichts des deutschen Patriotismus.

»Der Deutsche ist auf Deutsche angewiesen, das heißt in der einfachsten Version: wem soll er vertrauen, wenn nicht seinem Ingenieur, General, Denker? Die deutsche Arbeit war stets die solidere. Die Deutschen sind ein Volk, wo der Arbeiter das Vertrauen der Elite schenkt, und die Elite dem Arbeiter Vertrauen entgegenbringt... Zwar haben sie zwei riesige Kriege verloren, doch haben sie die ganze Welt in Schach gehalten und, bis sie zermalmt worden waren, führten sie die Führer von Sieg zu Sieg. Trotz allem sind sie an Siege gewohnt: in der Fabrik, im Kriege, in jederlei Lösung von Problemen... Hitler, das war ebenfalls, vor allem, eine Frage des Vertrauens. Da sie nicht glauben konnten, daß dies derart simpel war, so mußten sie also annehmen, daß es genial war... Eine Parallele: Der Pole ist durch Niederlagen geformt, der Deutsche — durch Siege. Sie sind nicht tüchtiger, nur fürchten sie mehr Pfuschwerk, das ihnen fremd ist... (das Gesicht eines Elektrotechnikers, der die Leitungen eines Fahrstuhls repariert, ist konzentriert, schmerzlich, beinahe märtyrerhaft).«

Witold Gombrowicz erlebte die Berliner in der ersten Hälfte der sechziger Jahre: brav, bieder, arbeitssam. Die antiautoritäre Revolte war ihren Gesichtern noch nicht ablesbar, die revolutionären Traditionen waren ihnen längst ausgetrieben und ihre Vertreter spätestens im Nationalsozialismus ermordet worden.

Zum Beispiel Rosa Luxemburg: Wanderin zwischen der polnischen, russischen, jüdischen und deutschen Welt, Internationalistin. Aus dem russisch regierten Teil Polens stammend, gehörte sie bereits als 18jährige zu den Gründern der »Internationalen Sozialdemokratie des Königreichs Polen«. Sie emigrierte nach Zürich, um dort zu studieren, lebte mit deutschem Paß in Berlin, nahm an der gescheiterten russischen Revolution von 1905 teil, wurde in Warschau inhaftiert, rief die Arbeiter aller Länder zum Widerstand gegen den Krieg auf und mußte dann doch — größtenteils in »Sicherheitshaft« — die entsetzlichen Absurditäten des Ersten Weltkriegs erleben: Arbeiter kämpften gegen Arbeiter, Sozialdemokraten gegen Sozialdemokraten, Polen gegen Polen. Österreich-Ungarn, Rußland und Deutschland hatten als Machthaber auf polnischem Gebiet insgesamt drei Millionen polnische Soldaten für ihre jeweiligen Heere rekrutiert, die dann auf den Schlachtfeldern aufeinander schießen durften.

»Ihre Gesundheit! Ihr Gleichgewicht! Ihr Wohlstand! Ach, wie oft hat es mich geradezu zum Lachen gebraucht, was für ein Witz, was für ein historischer Jux, daß eben hier, im Zentrum selber der Katastrophen, die Leute am allerbequemsten leben und am besten verdienen. Wie ist das doch komisch, daß sie von unter so vielen Brand- und Brisanzbomben sich an die Oberfläche herausgerappelt haben — als wenn nichts gewesen wäre, rotwangig und obendrein mit Necessaires und Badezimmern... Empörend! Wo ist Gerechtigkeit... gewöhnliche Anständigkeit!«

Der Sieg über den deutschen Militarismus machte es möglich, daß 1918 auch Polen wiederentstand. Viele Berliner Polen, vor allem die Intelligenz, die Kaufleute, reicheren Handwerker und qualifizierten Arbeiter, entschlossen sich in den zwanziger Jahren zur Rückkehr in ihre Heimat. Zurück blieben die Arbeiter und Saisonarbeiter; die polnische Gemeinde wurde nicht nur stark reduziert, sondern auch proletarisiert. Waren die Berliner Polen im Jahre 1910 mit 37.655 gezählten Köpfen die größte Zuwanderergruppe und stieg ihre geschätzte Zahl mit der Eingemeindung zahlreicher Dörfer zu Großberlin im Jahre 1920 sogar auf 80.000 bis 100.000, so schrieb die Tageszeitung 'Dziennik Berlinski‘ 1932 fast schon einen Nachruf auf die Berliner Polen: Seit Posen und Ostoberschlesien wieder polnisch geworden seien, »fehlt der Berliner polnischen Kolonie der Nachschub aus dem Osten. Ihre Zeit ist vorüber.«

Ihre Zeit war noch in einem ganz anderen, viel schlimmeren Sinne vorüber, als die Nazis die Macht eroberten. Der abwertende Klang in dem Wort »Polacken« stammt aus jenen finsteren Zeiten, in denen sich der Terror gegen Polnischsprachige von Jahr zu Jahr verschärfte. 1938 wurden polnische Kinder von den Schulen relegiert, 1939 das Zentralgebäude des »Bundes der Polen« von der Gestapo beschlagnahmt. Nach dem Überfall der Wehrmacht auf das wehrlose Polen am 3. September 1939 lösten die Nazis in Berlin und anderswo sämtliche polnischen Organisationen auf und verhafteten viele Polen allein aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit.

In Relation zur Bevölkerungszahl hat kein Volk mehr unter den deutschen Staatsterroristen gelitten als das polnische. Sechs Millionen Polen, die polnischen Juden mitgezählt, kamen durch deutsche Hand um — in Gaskammern, Gestapokellern, Schützengräben und anderswo. Aber so wie den Juden, so scheinen die Deutschen auch den Polen Auschwitz nicht verzeihen zu können. Vieles fiel dem Verdrängen anheim. Welcher Berliner Nichtspezialist und welche Nichthistorikerin in Berlin weiß zum Beispiel, wer General Grot-Rowecki war? Jener erste Befehlshaber der Armia Krajowa, der »Heimatarmee« des polnischen Widerstands, der nach seiner Verhaftung in Warschau im Juni 1942 in das Gefängnis des Reichssicherheitshauptamtes in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße 8 gebracht und später im KZ Sachsenhausen ermordet wurde.

»Man sagt: — dort, hinter der Mauer war der Bunker Hitlers (war, oder ist? Denn er ist ja noch immer, sei es auch als gewesener Bunker). Man sagt: — ach, der Krieg, das waren schlimme Jahre! Oder: — Seit dem Krieg bin ich allein, der Mann und der Sohn sind umgekommen. Man hat mich zu einem Gefängnis gefahren und hat mir ein gewöhnliches, helles Zimmer gezeigt mit eisernen Ringen an der Decke, die dazu dienten, jene zu hängen, die gegen Hitler kämpften — aber vielleicht nicht zum Erhängen — zum Erwürgen (denn ich verstand nicht recht, manchmal hörte ich sogar nicht richtig, wie das so in Gebirgen zu sein pflegt, auf großen Flüssen, an Orten, wo die Natur phantastisch wird). Und wieder: »war« das, oder »ist es noch«... obgleich nicht völlig, schon zerfressen von der ZEIT. Mußte ich doch öfter in den Straßen der so anständigen, so tief moralischen Stadt nicht nur zu Ungeheuern gewordene Hunde sehen, sondern auch Menschen-Ungeheuer —, wer könnte mir garantieren, daß der rechte Fuß dieses Herrn in einem gewissen Alter damals nicht jemandes Gurgel bis zum Enderfolg gewürgt hat. Ihre erstaunliche Kraft in der Überwindung der Vergangenheit verursacht, daß du es manchmal kaum glauben kannst... Eine Stätte des Verbrechens — oder der Tugend? Ich, eine Person aus Argentinien, eine eher ahistorische und ungewohnte, hatte immer den Eindruck, daß Berlin — wie Lady Macbeth — sich ohne Rast und Ruhe die Hände wasche...«

In der Nachkriegszeit, angesichts zahlloser ungesühnter Naziverbrechen und der Vertreibung der Volksdeutschen aus Polen, waren deutsch- polnische Annäherungen vollends undenkbar. Die Geschichte stagnierte. Erst in den sechziger und siebziger Jahren wagten sich wieder Künstler und Intellektuelle nach Berlin: Witold Gombrowicz, Witold Wirpsza, Arnold Slucki. Sie fanden eine winzige polnische Gemeinde vor, deren Mitgliederzahl langsam wieder stieg: 1979 lebten gerade mal 3.544 Polen in Berlin, 1982 waren es 8.500, 1988 16.179. Heute dürften es rund 25.000 sein: nach den Türken und den Jugoslawen die drittgrößte Einwanderergruppe. Mit ihr ist auch wieder polnische Kultur nach Berlin gekommen: Kunstvereine, Theatergruppen und so manches andere, was in Nischen überwintern darf. In Nischen, denn das normale Berlin wird anders geprägt:

N. erzählte mir (nicht er allein) von der Amerikanisierung Berlins. Er sagte: — Wir haben nach dieser Katastrophe Amerika so sehr nötig gehabt... und mehr seinen Geist als seine militärische Kraft und seine Dollars. Amerika ist über uns hingegangen wie eine Walze, ausgleichend, demokratisierend, vereinfachend. Wir haben die Reste unserer Türme mit stolz wehenden Standarten liquidiert, die ganze Metaphysik, allen Romantizismus, Nebel, hohe Wolken, und dafür haben wir den Fuß auf die Erde gesetzt, und ist uns die Konkretheit des gewöhnlichen Lebens und gewöhnlicher Tätigkeit offenbar geworden.«

Aber Gombrowicz glaubte »nicht zu sehr an die Amerikanisierung Berlins«:

»Dieses Glitzerding West-Berlin, letzte Koketterie des luxuriösen Europa — dahinter weiter, als ob nicht mehr Stadt, sondern nur eine Weite, eine gigantische, bis nach China. Ich schaue mich angestrengt hinein wie in eine stumme Einsamkeit winterlicher Felder, als wäre ich auf dem Lande... eine Magie hat sich in dieser elementaren Weite verborgen, von der man weiß, daß sie dem universalen und organisierenden Gedanken untergeben ist, unteilbar beherrscht von der Idee. Während West-Berlin leuchtende Blindheit ist, sich auf gut Glück der Verwirrung einordnend, so hat sich auf jener Seite, wo Nacht ist, Weite, Erde, Winter, Dunkelheit, die Idee ausgebreitet, eine verbissene, schweigende. Eine strenge. Das ärgert...« Ute Scheub

Gesammelte Werke Band 6-8, Tagebuch 1953-69 , Carl-Hanser- Verlag, München