Sind sie nun erledigt?

■ „Der letzte Jude“ von Yoram Kaniuk

Als ich zum erstenmal von Yoram Kaniuk erfuhr, sah ich eine dramatisierte Version seiner Bekenntnisse eines guten Arabers. Eine kleine Kellerbühne, provisorisch mit wackligen Stühlen eingerichtet. Die Zuschauer zu bestimmt 70 Prozent Palästinenser, die sich mit diesem Stück des Israeli zu identifizieren vermochten. Danach heftige Diskussionen, in denen zuweilen etwas wie Dialog durchschimmerte. Das ist bereits viele Jahre her. Das zweite Mal traf ich ihn persönlich. Ein nebliger Abend im Winter. Kaniuk, von einem Nachmittag, vollgepackt mit Interviews, erschöpft, ließ seinen Gedanken freien Lauf. „Jedesmal, wenn ich nach Deutschland komme, habe ich das Gefühl, im Land der Toten zu sein und über Berge von Gebeinen zu steigen. Der Friedhof war in Polen, aber hier wurde das Gas hergestellt.“ Kaniuks Worte, eine längst überwunden geglaubte Vergangenheit beschreibend, sollten Vision werden.

Kaniuk, der zur Brücke werden wollte, macht hier sein eigenes, persönliches Scheitern aus. Durch den Golfkrieg, die deutschen Giftgaslieferungen, die ausweglose Verhärtung der Fronten zwischen Palästinensern und Israelis, ist sein Dialog, den er einst durch Gründung des israelisch-palästinensischen Schriftstellerkomitees eröffnete, längst vom Krieg überholt worden. Einstige Freunde, Palästinenser, Kampfgenossen, resümiert er, jubeln heute über die Bombardierung Tel Avivs, die durch deutsche Techniker erst möglich wurde. Kaniuk ist erschüttert darüber, wie rasch sich jene, deren Protest er einst mittrug, nun an die Seite Saddam Husseins schlugen, der Israel mit Vernichtung bedroht.

Vor wenigen Wochen erschien, nach Adam Hundesohn, Kaniuks neuer Roman: Der letzte Jude im Dvorah-Verlag. Hier führt Kaniuk seine Auseinandersetzung mit dem Holocaust und der Geschichte Israels fort. Kaniuk, der durch seinen Vater von der deutschen Kultur geprägt ist und von sich sagt, in zwei Welten aufgewachsen zu sein, auch in der idealisierten deutsch-jüdischen Heimat des Vaters, jener vermeintlichen „Symbiose“, von der er sich heute immer wieder kritisch distanziert. Er erzählt seine Geschichte verschlüsselt, voller Sprachbilder, verborgener Komik. Die Aufgabe der Literatur, läßt Kaniuk eine seiner Figuren sagen, sei, den noch ungeborenen Dingen Geburtshilfe zu leisten, das dem Auge bisher Unsichtbare offenzulegen, das Absurde zu legitimieren, „denn unser Leben ist ja ein völliges Absurdum“.

Den Vater suchen, und das Verderben finden. Ein wahrlich altes Motiv. Ebeneser heißt der jüdische Ödipus. Doch den Vater findet er nicht — oder sollte er ihm etwa in der Gestalt des deutschen Lagerkommandanten begegnet sein, der das Leben des geschickten Holzschnitzers schonte? Nein. Ebenesers Vater bleibt unbekannt.

Ebeneser, der Mann ohne Eigenschaften, eine „menschliche Datenverarbeitungsmaschine“, ein „wandelndes Gedächtnis“ und dennoch der „geschichtslose Mensch“, „von dem kein Mensch etwas erwartet“, der Mann, an dessen „vaterloser“ Abstammung Kaniuk nicht zuletzt das messianische Motiv variiert, findet sein „Ich“ erst, als er aufhört zu deklamieren, das festhalten zu wollen, was ihm andere, vor den Feueröfen und Gaskammern zuflüsterten. All das Wissen, das er, der letzte Jude, aufbewahren muß. Diese Odyssee des 20. Jahrhunderts, sie führt an den Unterwelten der Todeslager vorbei.

Das Schicksal des Ebeneser, der überlebte, ist gleichwohl verwoben in einen Kosmos von Erzählungen, eine gigantische, in sich verschachtelte Parabel über die Geschichte der Juden, die Geschichte Israels. So vieldeutig, daß sie hier auch nicht annäherungsweise beschrieben werden kann. Da verschmilzt chassidische Mystik mit dem Aufbau der ersten Siedlungen, den Kämpfen zwischen Zionisten und Arabern, dem zweiten Mord an Dana, mit dem sich Kaniuk wohl auf Arthur Koestlers Diebe der Nacht bezieht. Von 1964 bis 1981 arbeitete Kaniuk an diesem Buch, ein Lebenswerk. Der Versuch einer Begegnung, ein Motiv, das Kaniuk bereits in Adam Hundesohn behandelte, findet hier zwischen dem israelischen Schriftsteller und „Deutschautor“ statt. Doch was im ersten Roman noch auf der Ebene von Opfer und Täter und deren Rollentausch behandelt wurde, erscheint hier auf eine höhere Stufe transportiert: Deutschautor trägt die Züge Mephistopheles', er übernimmt die Rolle des Berichterstatters und treibt die Identitätsfindung des „Ichlosen“ voran. Der Erzähler bezieht sich auf ein Buch, das er einmal „gemeinsam mit diesem Deutschen verfassen werde“ und ergänzt: „Womöglich ist dieses Schreiben selbst ein Entschlüsselungsversuch, ein Bemühen, die Verbindungen zwischen den Geschehnissen aufzudecken, deren Logik mir so fremd erscheint.“

Symbolische Verdichtungen allenthalben: Ihrer beider Söhne, Menachem, der Sohn des Ovadja Chankin, der im Krieg fiel, und Friedrich, der Sohn des Deutschen, der sich selbst tötete, liegen nebeneinander in der Erde Israels, die, wie es heißt, auch die Erde der Kreuzfahrer ist. Spiegelverkehrt das biblische Motiv. Der Vater ist vergeßlich. Den Sohn hat er, der in Trauer Versunkene, schon nicht mehr erkannt.

Ein Spaßmacher, eine Kabarettnummer steht am Anfang und am Ende des Romans: „Als der letzte Jude starb“, heißt es da, „hielt Gott einen Augenblick den Atem an und sagte: Sind sie nun erledigt? Der Generaldirektor antwortete: Ja. Worauf er sagte: Sie hatten etwas an sich, was war es noch? Und der Direktor erwiderte: Sie haben dich von ganzem Herzen geliebt. Da sagte er: Was für eine Verschwendung, und schloß die Augen für weitere tausend Jahre, die im nachhinein vergingen, vorwärts und rückwärts.“ Hanna Rheinz

Yoram Kaniuk, Der letzte Jude , Dvorah Verlag Frankfurt am Main, 420 Seiten, 47 DM