Schlußstrich oder Aufarbeitung?

■ Joachim Gauck, Bürgerrechtler und Sonderbeauftragter der Bundesregierung für die Stasi-Unterlagen, wendet sich vehement gegen den Sog des Verdrängens.

Seitdem mit der Auflösung der DDR-Staatssicherheit begonnen wurde, ist immer wieder der Vorschlag gekommen, sich ihres unheimlichen Erbes auf einfache Weise zu entledigen:

Die kilometerlangen Bestände der Akten und Dateien, in denen die Bevölkerung eines ganzen Staates wie gläserne Menschen durchleuchtet und ihr Leben manchmal bis in den intimsten Bereich hinein ausgeforscht und gespeichert wurde, sollten so schnell wie möglich vernichtet werden. Vom „bedrohlichen Gift der Akten“ war die Rede, von einer „Zeitbombe“, die man wie ein explodierendes Kernkraftwerk am besten unter einer dicken Betondecke begraben sollte, von einem raschen und endgültigen Schlußstrich, der jetzt unter die Stasi-Vergangenheit gezogen werden müßte.

Diese Art von „Vergangenheitsbewältigung“ praktizierte bezeichnenderweise als erste die Stasi selbst, als sie in den Wochen des revolutionären Herbstes 1989 daranging, systematisch belastende Aktenbestände zu vernichten. General Schwanitz, einer der Hauptverantwortlichen der Stasi in dieser Zeit, erließ im November einen Befehl, der angesichts der heraufziehenden Unsicherheit eine lange Liste mit zu vernichtenden Unterlagen enthielt — darunter solche über Abgeordnete der „befreundeten Parteien“ der SED oder über Liebesbeziehungen zu Personen im kapitalistischen Ausland. Empörte Bürger setzten diesem Treiben schließlich ein Ende. Zu einem symbolischen Akt, die Stasi-Vergangenheit durch die Vernichtung ihrer gefährlichen Hinterlassenschaften gleichsam abzuschütteln, geriet auch die Ausführung eines Beschlusses des zentralen „Runden Tisches“ Anfang 1990, alle elektronischen Datenträger des MfS zu vernichten — das Fernsehen zeigte damals jedem Bürger, wie die Magnetbänder und Speicherplatten zermalmt und damit unschädlich gemacht wurden. Erst nachdem das Werk vollzogen war, gerieten einzelne ins Grübeln, ob bei diesem Beschluß nicht der alte Apparat selber die Feder geführt haben könnte, weil er das größte Interesse daran haben muß, die Spuren seines Wirkens möglichst vollständig zu beseitigen.

Der Ruf nach dem Schlußstrich wurde in der Folgezeit aber auch von westdeutschen Politikern sowie von integeren Persönlichkeiten aus der alten DDR erhoben, die manchmal selber Opfer des Schnüffelapparates gewesen waren. Immer neue Enthüllungen über die Stasi-Vergangenheit führender Politiker der Umbruchszeit wie Wolfgang Schnur, Martin Kirchner, Ibrahim Böhme oder Lothar de Maizière ließen allmählich erahnen, wie weit die Durchsetzung der Gesellschaft mit inoffiziellen Mitarbeitern des MfS gegangen war — und diese Last erschien vielen Wohlmeinenden jetzt vor allem als ein Druck- und Erpressungsmittel zu wirken, das von parteipolitischen oder anderen dunklen Interessen nach Belieben zur Diskreditierung mißliebiger Personen eingesetzt werden könnte. Andere Argumente gegen die rückhaltlose Aufarbeitung des Stasi-Erbes lauteten, daß es bei einer radikalen Offenlegung aller Verstrickungen unweigerlich zu Mord und Totschlag käme und die Ostdeutschen noch gelähmter den vor ihnen liegenden schweren Aufgaben gegenüberstünden. Die Warnung vor einer politischen Verunsicherung wurde ebenso in Ansatz gebracht wie die christliche Bereitschaft zur Vergebung und die mögliche Belastung für ein Zusammenwachsen der Deutschen in Ost und West. Manchmal wurde auch die Beweiskraft der Stasi-Akten in Zweifel gezogen und auf die schwierige Grenzziehung zwischen Tätern und Opfern verwiesen.

In diesem Sinne äußerten sich insbesondere Vertreter der evangelischen Kirchen, die bei der Entmachtung der SED eine wichtige Rolle spielten, nun aber für Vergebung und Neubeginn plädieren. Der Bischof von Berlin- Brandenburg, Gottfried Forck, forderte öffentlich, die Akten ein für allemal zu schließen, und der sächsische Landesbischof Hempel meinte in einer Fernsehsendung, es gebe in den fünf neuen Bundesländern wichtigere Aufgaben als die Vergangenheitsbewältigung. In ähnlicher Richtung äußerte sich auch der Vorsitzende der Konferenz der Kirchenleitungen. Bischof Demke, und Friedrich Schorlemmern, einer der Initiatoren der friedlichen Revolution, sprach sich öffentlich dafür aus, einen Schlußstrich zu ziehen, weil die Stasi mit ihrem Wissen sonst doch noch einen späten Sieg über ihre früheren Gegner erringen würde.

Ich habe Verständnis für das Erschrecken, das viele befällt, wenn sie sich vergegenwärtigen, in welcher Weise das Aktenmaterial des MfS mißbraucht werden könnte. Und dennoch: Das Aussparen bestimmter Probleme aus der öffentlichen Diskussion hat noch keiner Gesellschaft geholfen — gerade das ist ja eine Lehre aus dem Zusammenbruch der DDR. Genauso wenig wie sich in der Familie oder im Freundeskreis Probleme dadurch lösen, daß man darüber schweigt, können wir der Last der Stasi-Vergangenheit dadurch entgehen, daß wir die

ebatte darüber für beendet erklären.

Sollte sich eine solche Form des Umgangs mit den Stasi-Akten durchsetzen, wäre ein enormes Maß an Frustration und Unmut in den neuen Ländern unvermeidlich. Sie würde auch bewirken, daß die hysterische, um einzelne „Fälle“ kreisende Form der Aufarbeitung weiter begünstigt würde, doch davon profitiert nur die Boulevardpresse, während die Bevölkerung zur Rolle eines ewigen Zuschauers verurteilt wäre. Das Zuschauen ist aber letztlich ebenso wenig nütze wie das Wegschauen — was wir lernen müssen, ist das sachgerechte Wahrnehmen als Voraussetzung für späteres sachgerechtes Entscheiden.

Psychologisch ist der Wunsch, die Akten zu vergraben und nicht mehr zu bearbeiten, verständlich, aber wir verzögern damit nur das Zurechtkommen mit der eigenen Geschichte. Sich der Vergangenheit zu stellen, mag schmerzhaft sein, aber in jedem Fall heilsamer, als sie von sich wegzuschieben und zu verdrängen.

Es ist auch eine Illusion zu glauben, das Problem der Stasi-Akten ließe sich dadurch erledigen, daß man einen riesigen Betondeckel über die Akten legt, so daß niemand mehr an sie herankommt. Eine allgemeine gesellschaftliche Übereinkunft, die Stasi-Vergangenheit aus höheren Motiven ruhen zu lassen, kann und wird es nicht geben. Zum einen verbietet dies schon der berechtigte Anspruch der Opfer zu wissen, was über sie gespeichert wurde, wer ihre Inhaftierung oder andere Zwangsmaßnahmen angeordnet hat, und welche Ansprüche auf Wiedergutmachung aus der unrechtmäßigen Verfolgung resultieren. Für die strafrechtliche Ahndung vergangener Untaten ist es unerläßlich, die Archive der Stasi nutzen zu können.

Zum anderen wird es immer Menschen geben, die sich an eine solche Übereinkunft nicht halten, und wir wären all denen hilflos ausgeliefert, die in ihren Köpfen oder Aktentaschen kompromittierendes Material aus der Vergangenheit festgehalten haben und nach Belieben oder finanzieller Situation davon Gebrauch machen würden. Ich selber habe die Erfahrung machen müssen, wie mir unbekannte Personen meinen Ruf mit böswilligen Beschuldigungen unterminieren wollten, und erst der Blick in die Akten es möglich machte, die Vorwürfe Punkt für Punkt zu widerlegen. Gerade um uns nicht dem „Herrschaftswissen“ der Stasi-Offiziere auszuliefern, um den Halb

wahrheiten, Gerüchten und Unterstellungen entgegentreten zu können, brauchen wir den Zugang zu den Archiven und umfassende Nutzungsmöglichkeiten des Materials.

Ich teile auch nicht die Auffassung, daß eine Offenlegung der Akten und damit der Mitwirkung vieler bislang als unbescholten geltender Bürger am Unterdrückungssystem der Stasi im Osten Deutschlands zu Mord und Totschlag führen würde. Es gibt überhaupt keinen Anlaß davon auszugehen, daß es zu solchen rechtswidrigen Handlungen der betroffenen Bürger kommen würde, und der Rechtsstaat bietet zudem ausreichende Mittel, dies zu verhindern. Mir ist in der ganzen DDR auch nicht ein einziger Fall bekannt geworden, wo es zu persönlicher Rache oder sogar zu Lynchjustiz gekommen wäre, obwohl manch einer genügend Anlaß dazu hätte. Bis zum heutigen Tag hat sich niemand auf Wolfgang Schnur oder Ibrahim Böhme gestürzt, nachdem ihre Zusammenarbeit mit dem MfS bekannt wurde, obwohl sicher viele Menschen, die Kontakte zu ihnen hatten, ein Gefühl maßloser Enttäuschung und Bitterkeit empfanden. Es entspräche einfach in keiner Weise dem Charakter dieser ostdeutschen Revolution, wenn die Opfer nunmehr den Tätern den Schädel einschlagen würden — nur wissen möchten sie wenigstens, wer ihnen was warum angetan hat. Und aus diesem Wissen sollen sie als selbständig handelnde Staatsbürger ihre Entscheidungen ableiten. Eine fürsorgliche Anleitung durch den Staat dagegen verzögert nur die Subjektwerdung einer lange zu Objekten degradierten Bevölkerung.

Ich bin der festen Überzeugung, daß niemand in der ehemaligen DDR — auch die Opfer der Staatssicherheit nicht — eine Hetzjagd eröffnen will oder in der Art eines Saubermannes einem Entstasifizierungswahn verfallen würde. Es geht lediglich darum, daß wenigstens die herausgehobenen Positionen in der Gesellschaft nur solche Bürger bekleiden können, die nicht durch eine Mitarbeit beim MfS belastet sind. Es ist von elementarer Bedeutung, für Parlamentarier, Behörden und Leitungsebenen der Wirtschaft anerkannte Kriterien zu entwickeln, ob und wieviel frühere Kooperation mit der Stasi auf der jeweiligen Ebene geduldet werden kann. Es löst nämlich in den Menschen einen ungeheuren Zorn und auch wachsende Zweifel an der Gerechtigkeit der Demokratie aus, wenn sie täglich an ihrem Arbeitsplatz oder in den Behörden immer noch mit denselben Figuren konfrontiert sind, die schon während der Herrschaft von SED und Stasi Privilegien genossen.

Ich glaube, daß die Bürger und Politiker in den alten Bundesländern lernen müssen, diesen Zorn und die dahinterliegenden Erfahrungen zu verstehen, denn mit der Vereinigung beider deutscher Staaten ist der Umgang mit der Stasi-Vergangenheit zu einem gesamtdeutschen Problem geworden. Über die Ostdeutschen wird oftmals vorschnell geurteilt, ohne deren Lebensgeschichte und Lebensumfeld zu kennen, und mancher Vorschlag, was mit den Stasi-Akten zu geschehen hat, orientiert sich zu sehr an den eigenen Erfahrungen und zu wenig an denen der Menschen in der ehemaligen DDR. Je intensiver sich aber Politiker und Bürger der alten Bundesländer mit dem

Problem der Akten und der Unterdrückung durch den Staatssicherheitsdienst beschäftigen, desto bereiter sind sie, den Wünschen vieler Ostdeutscher zu entsprechen, die Stasi-Archive so weit wie möglich zu öffnen.

Wir sind in dieser Frage auf ein hohes Maß an Sensibilität und Einfühlungsvermögen angewiesen — und zwar in allen poltisichen Lagern. Es muß möglich sein, im Bundestag an diesem Punkt zu einem fraktionsübergreifenden Konsens zu kommen, der eine Aufarbeitung der Vergangenheit ermöglicht, die sich an Offenheit und Konfliktbereitschaft, an Erinnerung und Begegnung orientiert. Die Abgeordneten aus der alten DDR haben dabei die wichtige Funktion, diese Aufgabe aus ihrer eigenen Betroffenheit auch jenen zu veranschaulichen, die den Sinn einer solchen Auseinandersetzung anzweifeln und die Akten am liebsten für immer schließen würden.

Ich bin zuversichtlich, daß die Politiker der Verantwortung, die in dieser Frage auf ihnen lastet, am Ende gerecht werden. Die Westdeutschen haben ja den ehemaligen DDR-Bürgern die Erfahrung voraus, wie bitter es ist, die Aufarbeitung einer schlimmen Vergangenheit der nächsten Generation zu überlassen. Sie sind gewissermaßen gebrannte Kinder und werden es kaum zulassen, daß dieses Versäumnis der Deutschen auch noch zu einer schlechten Tradition wird. In seiner berühmten Rede zum 8.Mai 1985, dem 40.Jahrestag des Kriegsendes, hat Richard von Weizsäcker von der Bedeutung des Erinnerns gesprochen, um Gegenwart und Zukunft gestalten zu können. Die jetzt zu gestaltende Form der Aufarbeitung unserer Vergangenheit bietet eine gute Möglichkeit, dem Vorurteil entgegenzuwirken, die Deutschen verweigerten sich generell ihrer Vergangenheit und seien „unfähig zu trauern“.

(...) „Die entscheidende Herausforderung an uns Ostdeutsche ist, ob wir die Kraft und das Selbstbewußtsein aufbringen, vor unserer Geschichte nicht davonzulaufen, sondern uns ihren guten und schlechten Seiten zu stellen. Wir haben keine andere Vergangenheit einzubringen, als diese Vergangenheit. Gerade das Ernstnehmen der erlittenen Beschädigungen und Entfremdungsprozesse könnten bereits ein Element der Gesundung sein. Wir müssen den Mut finden, unseren westdeutschen Landsleuten zu sagen, daß wir zwar einiges für die Freiheit getan haben, aber in der Freiheit nicht unbeschädigt ankommen können, daß wir so aufgenommen werden wollen, wie wir kommen, also nicht als weiße, unbeschriebene Blätter, sondern mit unserer Vergangenheit. Nur auf diesem Weg wird es gelingen, ein neues Selbstwertgefühl zu gewinnen — und nicht durch ein schamvolles Verschweigen unserer Herkunft.

(...) Ausschlaggebend für die Arbeit mit den Stasi-Akten ist letztlich unser Wille, das auf der Straße Begonnene fortzusetzen, indem wir auch das Herrschaftswissen der Staatssicherheit brechen. Wir wollen das Wissen gewinnen, das die Mächtigen über uns hatten, um uns selber zu befreien. Insofern ist unsere Arbeit auch Teil eines großen therapeutischen Prozesses, indem wir uns der Verstrickungen und Verletzungen erinnern, der frühen und lang andauernden Ängste, der Alpträume und der Wut, die wir nach dem Sturz der SED so schnell wieder versteckt und verdrängt haben.

Eine Begegnung mit der Vergangenheit ist immer auch eine Konfrontation mit dem eigenen Versagen. Dennoch müssen wir uns den Gefühlen und Erfahrungen nähern, wie sie wirklich waren. Auch wenn es schmerzt, sollten wir im privaten Bereich, in den Familien, im Freundeskreis oder am Arbeitsplatz zu sprechen beginnen und dabei der eigenen Mangelhaftigkeit ins Auge sehen. Vielleicht führt uns gerade dieses Eingeständnis auch zu unserer Hoffnung, die uns trotz aller negativen Erfahrungen über Jahrzehnte glauben ließ, daß eine Veränderung möglich sei; vielleicht führt gerade sie uns wieder zu unserem Zorn und unserer Sehnsucht, die uns im Herbst 1989 auf die Straße trieben.

Diese oftmals schmerzliche Aussöhnung mit sich selbst könnte auch die Basis sein, auf jene zuzugehen, die aktiv an Unterdrückung und Entfremdung mitgewirkt haben. Ein entscheidender Schritt bei der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist das offene Gespräch zwischen Tätern und Opfern. Wenn sich ein inoffizieller Mitarbeiter offenbart, herrscht in der Regel Sprachlosigkeit, doch einzelne Situationen haben gezeigt, daß dies der Anfang einer gemeinsamen Aufarbeitung sein kann. (...)

Die Gesellschaft schließt niemanden aus, der klar zu erkennen gegeben hat, an welchem Punkt seines Lebens er versagt hat. Denn es ist viel leichter, mit solchen Menschen die Zukunft zu planen als mit Personen, die permanent das Normale und Alltägliche dessen beweisen wollen, was alles andere als normal und alltäglich war. Die Voraussetzung für einen Neuanfang der Täter und der ins Stasi-Netz-Verstrickten ist ihre Bereitschaft zum offenen Gespräch. Dazu gehört Mut, aber in Krisensituationen geht es nicht ohne Risiko, und wer dieses scheut, wird auch die Zukunft nicht in wirklicher Freiheit erleben, sondern sein Leben lang von der Angst, entdeckt zu werden, beherrscht bleiben. Jeder einzelne muß für sich entscheiden, ob er einer angstbesetzten Form von Zukunftsgestaltung das Wort redet, oder ob er eine risikovolle Phase der Offenheit akzeptiert, die ihm allein den Weg zur wirklichen Freiheit eröffnen kann.

Gekürzter Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt-Verlages aus: Joachim Gauck, Die Stasi-Akten·Das unheimliche Erbe der DDR, rororo 1991.