Des Einheitskanzlers letzter Akt

■ Helmut Kohl entscheidet sich „als Abgeordneter“ für den Regierungssitz Berlin

Berlin (taz) — Helmut Kohl hat sich, wie oft, als Meister des politischen Spannungsbogens erwiesen. Er hatte durch sein konsequentes Schweigen den Wert seiner Stimme zur Hauptstadtfrage kontinuierlich erhöht. Seine Entscheidung für Berlin, gestern morgen am historischen Ort im Reichstag, hat bei CDU/CSU-Fraktion eine Art Schock ausgelöst. Auch wenn Kohl betont, er habe sich nur „als Abgeordneter“ geäußert, ist wahrscheinlich sein Votum entscheidend. Vor allem hat er den letzten Abglanz seiner historischen Rolle als Kanzler der Einheit eingefangen. Der Berliner CDU-Fraktionsvorsitzende Landowsky erschauert förmlich: „Die Führung der CDU hat ihre patriotische Kompetenz“ bewiesen. Ein interessantes Wort. Jedenfalls hat der Kanzler gezeigt, daß seine historische Leistung und der Erfolg der CDU zweierlei Dinge sind. Es gelingt ihm, das Desaster in Rheinland-Pfalz schon zwei Tage später zu relativieren. Genau das unterstellen die Bonn-Befürworter als ausschlaggebendes Motiv.

Gerhart Baum (FDP) ist empört, Ingrid Mathäus-Maier mäkelt: „ein falsches Signal“, „neue Steuerhöhungen“, „Ablenkung vom Wahldesaster“. Auch Werner Schulz (Bündnis 90) holt jenes Wort heraus, daß bei den Grünen immer beliebt war: „Ablenkungsmanöver“. Wieder wird auf die Kosten des Umzugs hingewiesen, und daß das Geld dann für „Rostock und Dresden fehlen wird“ (Mathäus-Maier). Auch Finanzminister Waigel sieht sich außerstande, den Regierungssitz Berlin zu finanzieren.

Kohl hat immerhin die Frage von den Umzugskosten gelöst. Er sieht mit Berlin eine bessere Chance zum Zusammenwachsen der Deutschen. Bildungsminister Rainer Ortleb (FDP) sieht gar in Kohls Entscheidung eine „Hinwendung zu den neuen Ländern“. Andere prominente Politiker aus der Ex-DDR wie Wolfgang Thierse oder Wolfgang Ullmann hatten schon längst deswegen diese Entscheidung getroffen. Daß Kohls Äußerung eine Vorentscheidung bedeutet, zeigt vor allem sein Vorschlag zum Kompromiß, an dem man nicht mehr einfach vorbeikommt. Er sieht einen Verlagerungsprozeß von mindestens zehn bis fünfzehn Jahren. Vor allem will Kohl einige Ministerien in Bonn lassen, darunter das Verteidigungsministerium. Damit blieben wichtige Steuerzahler in Bonn; zugleich wäre es ein Symbol, daß an der Westbindung nicht gerüttelt wird und die Hauptstadt Berlin sich endgültig von der militaristischen Tradition getrennt hat.

Inzwischen ist das Procedere festgelegt. Am späteren Nachmittag trafen sich zum erstenmal die Vertreter aller Verfassungsorgane, um die Schritte zur Entscheidungsfindung zu beraten. Streitpunkt ist, inwieweit der Bundesrat im Zusammenhang mit der Bundestagsentscheidung einen Beschluß fällt. Fest steht, daß auch die CDU/CSU-Fraktion wie seinerzeit die SPD- Fraktion auf eine Abstimmung verzichtet und nur über die Argumente der Berlin- und Bonn-Befürworter diskutiert. Die Berliner Politiker selbst, insbesondere der Regierende Bürgermeister Diepgen bemühen sich, ihre Freude mit gedämpften Optimismus zu verdecken. Der Bonner Oberbürgermeister Daniels hält gleichwohl die Schlacht noch nicht für verloren und meinte, „anhand der Beifallslage“ gebe es eine Mehrheit in der CDU/CSU-Fraktion für Bonn. Nur die Berliner — wie zu erwarten — klagen einer Blitzumfrage zufolge prompt über die viel zu volle Stadt und die neue Spekulantenflut, die kommen wird. Klaus Hartung