„Ich unterliege zur Zeit der Konversion“

Was einst Motor der sozialistischen Wirtschaft war, ist nun zum Bremsklotz geworden  ■ Von D. Hahn und K. Bachmann

Bloß weg von dem „militärisch-industriellen Komplex“, lautet die Devise in den früheren Mitgliedsländern des Warschauer Paktes. Zwar ist die Rüstungsbranche ganz besonders in der Sowjetunion, aber auch in anderen mittelosteuropäischen Ländern, nach wie vor ein Machtfaktor, doch was einst Motor der sozialistischen Wirtschaft war, ist zum Bremsklotz auf dem Weg in die Marktwirtschaft geworden. Die alten Privilegien und die heute ungenutzten Überkapazitäten der Branche müssen deshalb dringend reduziert werden, so die Auffassung der Regierungen in Warschau, Prag, Budapest und Moskau. Das Problem ist dabei jedoch die praktische Umsetzung. Denn die Abkehr von der extremen Rüstungswirtschaft droht im Chaos der Ökonomie und Zuständigkeiten hängenzubleiben.

Als erster mußte der tschechoslowakische Präsident Havel klein beigeben. Er war angetreten, die gesamte Rüstungsproduktion seines Landes einzustellen. Angesichts ihrer angespannten Wirtschaftslage wird die Tschechoslowakei nun doch weiter Waffen herstellen. Allerdings, und das gilt auch für Ungarn, Polen und die UdSSR, wird sie sich um neue Absätzmärkte kümmern müssen. Denn die alten Pflichtabnehmer innerhalb des Warschauer Paktes gibt es nicht mehr, und die Abnehmer in Übersee wie Afghanistan, Nicaragua und Vietnam haben nie in harter Währung bezahlt.

Schon für das vergangene Jahr ging das polnische Außenhandelsministerium von einem Rückgang der Exporte um 50 Prozent aus. Die Aussichten für die Jahre 1991 bis 1994 werden „noch wesentlich unattraktiver aussehen“, prophezeit das Ministerium. Deswegen wird die polnische Rüstungsbranche ausländischen Investitoren geöffnet — einer Branche, die sich bisher durch besondere Geheimhaltung auszeichnete. Wegen ihrer strategischen Bedeutung waren Rüstungsbetriebe auch von der Arbeiterselbstverwaltung ausgenommen. Dies soll weiter so bleiben. Hauptabnehmer für polnische Waffen war die DDR, die seit einem Jahr als Kunde ausfällt. In andere Länder auszuweichen ist jedoch nicht einfach, weil ein Großteil der polnischen Waffen auf sowjetischen Lizenzen beruht und die UdSSR häufig aus politischen Gründen und um ihre eigenen Märkte zu schützen, Reexporte verhindert.

Angesichts dieser Situation sind einige Betriebe bereits zu Konversionsprogrammen übergegangen — mit wenig Erfolg. Der Grund: Die potentiellen Kunden haben selbst kein Geld. Ausgeholfen hat hier Krupp mit einem größeren Auftrag, aus dem vielleicht bald ein Joint-venture wird. Nicht nur die geringen Löhne sind für ausländische Waffenproduzenten attraktiv. Es bieten sich gerade für deutsche Rüstungskonzerne auch Möglichkeiten, hiesige Exportkontrollen über Polen zu umgehen. Zugleich versuchen sie jene Märkte zu erobern, die bisher von den Ostblockstaaten beherrscht und westlichen Herstellern nur schwer zugänglich waren.

Auf der Suche nach potenter Kundschaft hat die Sowjetunion ihrerseits bereits Indonesien, Thailand und Finnland ihre „Mig 29“ angeboten. Ob sie allerdings mit den inzwischen auch teurer gewordenen Waffensystemen im Konkurrenzkampf mit westlichen Lieferanten bestehen kann, ist fraglich. Der Golfkrieg und die Niederlage des Irak, der mit zahlreichen sowjetischen Waffen ausgestattet war, hat die sowjetischen Chancen auf dem internationalen Rüstungsmarkt nicht vergrößert.

Aber nicht nur die Exportchancen sind ungewiß. Auch was zur Zeit in dem Rüstungssektor selbst passiert, weiß in der UdSSR niemand so genau. Nach westlichen Schätzungen, die von sowjetischen Experten für realistisch gehalten werden, hat die UdSSR von 1978 bis 1988 mehr Waffen hergestellt, als alle Nato-Länder zusammen. Im vergangenen Jahr sollen die Militärausgaben bei etwa 200 Milliarden Rubel gelegen haben, was ungefähr einem Viertel des Bruttosozialprodukts entspricht.

Unklar ist auch die Zahl der im Rüstungssektor Tätigen, die Schätzungen bewegen sich zwischen 2 und 6,5 Millionen Menschen. Der Moskauer Rüstungsökonom und ZK-Berater, Alexei Kireyev, vermutet, daß 70 Prozent des warenproduzierenden Gewerbes in der Sowjetunion militärisch kontrolliert sind. Eine exakte Bestandsaufnahme der Branche hatten Beobachter im vergangenen Dezember erwartet, als das von Gorbatschow lange angekündigte „Nationale Konversionsprogramm“ unterzeichnet wurde. Doch an dem Rätsel mit vielen Unbekannten hat sich seither wenig geändert. „Wie sollen wir abschaffen oder umwandeln, wenn wir gar nicht genau wissen, was wir haben“, fragt Kireyev. Trotz dieses von anderen Experten geteilten Einwandes legt das Konversionsprogramm fest, daß der Anteil der zivilen Fertigung in Rüstungsbetrieben bis 1995 von 40 auf 60 Prozent erhöht werden soll.

Nach dem Motto „konvertiert oder ihr macht zu“, sollte beispielsweise die Khrunischew-Fabrik für Luft- und Raumfahrttechnik in der Nähe von Moskau, die unter anderem auch die Mir-Raumfähren herstellt, Molkereimaschinen bauen. Das Ergebnis war denkbar schlecht. Ähnlich unbrauchbar waren die Waschanlagen für Tomaten, die per Dekret von Kriegsflugzeugbauern hergestellt werden sollten. Aber es gibt auch bedächtigere Konversionsansätze, wo die Hersteller selbst über die neuen Produkte entscheiden. So plant eine Fabrik in Sterlitamak im Ural die Umstellung der Produktion von Artilleriegeschützen auf Jeeps oder Busse. Und die Kirov-Werke in Leningrad mit ihren 70.000 Beschäftigten wollen künftig Fahrräder für den Export in die BRD herstellen. Dabei können sie auf langjährige Erfahrung aufbauen: Denn zivile Fertigung oder „Diversifizierung“ ist in der sowjetischen Rüstungsindustrie nicht neu. Seit Mitte der 60er Jahre werden in den Waffenschmieden auch Kühlschränke, Staubsauger und Fahrräder hergestellt. Bei Nähmaschinen sowie Farbfernsehgeräten und Videorekordern hat das Ministerium für die Rüstungsindustrie sogar das Monopol.

Der Westen hält sich bislang aus den sowjetischen Abrüstungsbemühungen weitgehend heraus. Auch die im vergangenen Jahr in mehreren sowjetischen Städten eröffneten Büros des Internationalen Fonds für Konversion („Convintur“) konnten daran bislang nichts ändern. Ebenso verhallte Gorbatschows Aufforderung zur Zusammenarbeit an die Deutsche Industrie und Handelskammer. „Dabei brauchen wir diese Kontakte dringend“, sagt Yuri Andreev, Sekretär der staatlichen Konversionskommission. Zwei Jahre konkrete Konversionserfahrung zeigen auch, daß Abrüstung Geld kostet. Zwar sollen von 1991 bis 1995 insgesamt rund 40 Milliarden Rubel für die Konversion ausgegeben werden. „Von der Finanzierung der Konversion durch Einsparungen im Verteidigungssektor ist jedoch keine Rede,“ bemängelt Kireyev. Denn das Militär genießt große Unterstützung besonders bei Rüstungsarbeitern, die um ihre vergleichsweise hoch bezahlten Arbeitsplätze fürchten. „Ich unterliege zur Zeit der Konversion“, ist ein Standardspruch in der Sowjetunion geworden. „Dabei haben die Leute gar keine Ahnung, daß ihre Arbeitsplätze nur dann sicher werden können, wenn wir konvertieren“, so Kireyev.