Erster Mai — Probe auf eine neue politische Kultur

■ Sozialer Protest als Herausforderung der Bürgerbewegungen/ Seismograph der wachsenden Ängste und Verbitterung/ Gewerkschaften können nicht alleinige Interessenvertretung sein/ „Revolutionäre des Herbstes“ müssen sich in Wirtschafts- und Sozialpolitik qualifizieren

Die erste Welle großer sozialer Protestdemonstrationen in den neuen Bundesländern hat auf allen Seiten hektische Betriebsamkeit ausgelöst. Kanzler Kohl tauchte zur „Privatvisite“ in Erfurt auf, seine Minister starteten zu Blitzbesuchen in die Krisengebiete, und das Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost wird allerorten angepriesen.

Ratlosigkeit aber auch bei denjenigen, die schon lange vor den Folgen eines wirtschaftlichen Crash-Kurses gewarnt hatten. In den Bürgerbewegungen ist nach endlosen Wahlkämpfen, Golfkrieg und der leidigen Organisationsdebatte kaum noch Luft für die jähe Herausforderung. Irgendwann war ja damit zu rechnen, daß die Leute wieder auf die Straßen gehen und ihre Wut und Enttäuschung herausschreien. Dann aber kann auch sehr schnell die Stunde der Demagogen, Wunderheiler und Gesundbeter schlagen. Aus der Anklage einer verfehlten Politik der Regierungsparteien und des Beiseitestehens der Sozialdemokratie kann es sehr schnell zur Verklärung der alten Kommandogesellschaft oder einem gefährlichen Rechtspopulismus kommen. In der Konsequenz einer barbarischen Lagermentalität ist dann auch Mord einkalkuliert.

In dieser Situation wächst den Gewerkschaften, sozialen Interessenvertretungen und den Bürgerbewegungen eine gemeinsame Verantwortung zu. Sie sind wohl der Seismograph, der in den Beratungs- und Rechtsschutzstellen das Anwachsen von Angst, Verbitterung und Hilflosigkeit am sensibelsten registrieren, wie auch — oft die einzigen — Vertrauensinstanzen. Der soziale Einbruch und der Schock, mit dem ungezählte Menschen jetzt zu tun haben, betrifft alle ihre Lebensbereiche: angefangen vom Arbeitsplatz, über die Sicherheit der Wohnung oder des Grundstücks bis hin zur Anpassung an ein fremdes Gesellschaftssystem. Auch die „Ratgeber“ sind diesem Prozeß oft genug ausgesetzt.

Was es für jeden politischen und gewerkschaftlichen Ansatz so schwer macht, mit den geballten Ängsten und Erwartungen umzugehen, sind die widersprüchlichen Momente darin. Die völlig berechtigte Forderung, nicht allein für die Kosten der Einheit bezahlen zu müssen und auf ewig benachteiligt zu sein, verbindet sich mit der Erwartung, die alte soziale „Betreuung“ zu erhalten. Mobilität und Bereitschaft zur Selbständigkeit wachsen nicht schnell genug. Der dadurch entstehende Druck auf alle Verantwortlichen zwingt andererseits, von liebgewordenen organisatorischen Abschottungen und ideologischen Verengungen zu lassen und gemeinsam nach Problemlösungen und Strategien zu suchen.

In diesem Sinne wird der diesjährige 1. Mai eine Probe auf die politische Kultur des neuen und immer noch nicht geeinten Deutschland. Nicht auf die politische Kultur der Regierungsparteien, denn deren Fähigkeit zum Krisenmanagement steht auf einem anderen Blatt. Der 1. Mai wird zur Probe auf den produktiven oder destruktiven Umgang mit der Gesamtheit der wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Vereinigungsprozesses. Niemand kann Wunder anbieten und fertige Konzepte aus der Tasche ziehen, aber ob es den Gewerkschaften gelingt, mit ihren Forderungen nicht an den Betriebstoren Halt zu machen und die Bürgerbewegungen als verantwortlichen Partner zu sehen, wird eine Menge ausmachen. Auf der anderen Seite wird es an den „Revolutionären des Herbstes“ liegen, sich auf dem Feld der Wirtschafts- und Sozialpolitik als Partner zu qualifizieren.

Konzepte für die Demokratisierung und Regionalisierung der Treuhand sind ebenso gefragt wie eine regionale Strukturpolitik, die einen ökologischen Umbau ermöglicht und damit anstelle der alten — vielfach nicht mehr erhaltbaren — Arbeitsplätze neue Arbeitsmöglichkeiten schafft. „Interessenvertretung“ im klassischen Sinne der Arbeitsplatzerhaltung um jeden Preis kann jedenfalls nicht mehr die Antwort der Gewerkschaften sein.

Im Moment wird gemeinsam diskutiert, den Druck der Proteste und der Demonstrationen in großen gesamtdeutschen Aktionen kulminieren zu lassen. Ob es dazu kommt oder nicht, bei der Herstellung der sozialen Einheit sollten Bürgerbewegungen und Gewerkschaften — soweit es eben geht — an einem Strick drehen. Wolfgang Templin, Vorstand der Initiative Frieden und Menschenrechte (aus: Bündnis 2000 Nr. 10)