Minsker Funktionäre bleiben stumm

Auch gestern versammelten sich wieder zigtausend Streikende auf dem Leninplatz von Minsk/ 30.000 haben einen Eisenbahnknotenpunkt in der Stadt Orscha besetzt  ■ Aus Minsk André Beck

„Unerträglich ist es in der Sowjetunion bereits seit siebzig Jahren“, schleudert ein Arbeiter aus dem Motorenwerk seine Worte wütend in Richtung Regierungspalast. „Wir wollen in die lichte Zukunft, aber ohne Euch vom Obersten Sowjet!“ Sein Ausbruch wird mit lautem Beifall bedacht. Bereits zum vierten Mal in diesem Monat sind die Minsker zum Generalstreik angetreten, um Schluß mit den Privilegien, der Herrschaft der Partei in den Betrieben, der absurden Preis- und Tarifpolitik, der Hörigkeit gegenüber dem „Zentrum“ zu machen. Die ohnehin auf den Nullpunkt gesunkene Lebensqualität, die schwindelerregende Inflation fordern den Widerstand der 60.000 heraus, die auch am Donnerstag auf dem Leninplatz versammelt sind. Die meisten von ihnen sind geradewegs von den Betrieben zum Meeting marschiert. Ihnen ist anzusehen, daß sie es satthaben, von ihrer Regierung auf den Sankt Nimmerleinstag vertröstet zu werden. „Belorußland, unser Haus, es brennt“, ruft ein Redner. Die Menge johlt, als bekanntgegeben wird, daß auch in Orscha, einem wichtigen Eisenbahnknotenpunkt, etwa 80.000 Arbeiter streiken. Und das Klatschen will kein Ende nehmen, als jemand verkündet, daß dort 30.000 Menschen den Zugverkehr blockieren.

Gennadi Bykow, der Vorsitzende des Minsker Streikkomitees teilt den Streikenden mit, daß die Landesregierung bislang nicht gewillt ist, auf die Forderungen des Komitees einzugehen. Die von ihr bis zum Jahresende vorgeschlagene Lohn- und Rentenerhöhung um das Doppelte mute fast wie ein Hohn an. Eine Rente von 57 Rubel bekomme sie, klagt eine alte Frau und sie fordert ,fast dem Zusammenbruch nahe, vor der Versammlung ihr sinnlos gelebtes Leben zurück.

„Ich glaube niemanden mehr, nicht der Partei, der Gewerkschaft oder dem Staat“, bricht ein Motorenbauer das danach betretene Schweigen. „Die Politik macht mich nicht satt.“ Auch das Minsker Fernsehen erntet Kritik. Die Kontrolle der Kommunistischen Partei über Radio, Fernsehen, Presse und Druckereien müsse sofort abgeschafft, gleiche Chancen für alle politischen Gruppierungen hergestellt werden. Und erstmals wird auch das Recht auf privaten Landbesitz gefordert.

Wie die Minsker Obrigkeit gedenkt zu reagieren, wurde ohnehin plausibel: vorerst überhaupt nicht. Kein Funktionär ließ sich herab, zu den Leuten zu sprechen. Auch die anberaumte Sitzung des Parlaments vom 21. Mai wurde nicht, wie schon am Dienstag gefordert, vorverlegt.

Die Stimmung radikalisiert Tag für Tag. Nikolaj Kowaljow, ein Mitglied des Streikkomitees, teilt der taz mit, daß bewaffnete Sicherheitskräfte gesichtet wurden. „Bitten Sie die westliche Öffentlichkeit, Druck auszuüben, daß kein Blut fließt.“