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...den Kopf dafür hingehalten, daß Europa bewohnbar blieb

■ Vier von 660.000 Katastrophenhelfern berichten über ihren Einsatz nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl und ihr Leben fünf Jahre danach

Vier Katastrophenhelfer von Tschernobyl, vier von 660.000, berichteten beim Berliner Tschernobyl-Kongreß vor zwei Wochen in der Charité über ihren Einsatz in der Ukraine und über ihr Leben fünf Jahre danach. „Ich zwinge mich, daran zu denken, daß mir nichts fehlt; ich schlucke meine Tabletten und arbeite den ganzen Tag“, beschrieb Anatoli Borowski seine Strategie gegen die Krankheit und gegen die Angst. Borowski hat auf dem Reaktordach Graphitbrocken eingesammelt. Seine drei Kollegen hatten ganz andere Aufgaben zu lösen.

Valery Pilyugin ist ein 28jähriger Bergmann aus Gorlovka, verheiratet, Vater einer Tochter. Im Mai 1986 wurde er zum Einsatz in Tschernobyl zwangsverpflichtet. Er erhielt eine Spitzhacke und einen Baumwollanzug und wurde einem Trupp zugeteilt, dessen Aufgabe darin bestand, einen Tunnel zu graben. Es war kein gewöhnlicher Tunnel: Der Schacht sollte direkt unter den explodierten Reaktor führen, aus dem seit dem 26.April 1.23 Uhr riesige Mengen an radioaktiven Nukliden in den ukrainischen Himmel geschleudert wurden.

Was niemand sah: Der Reaktor drohte auch nach unten durchzugehen. Die Betonplatte, auf der er stand, hatte bereits einen großen Riß und mußte dringend gesichert werden. Also wurde unter dem Fundament Erdreich ausgehoben und Beton nachgefüllt. Täglich drei Stunden wühlte Pilyugin im Tunnel. Über die Gefahren der selbstmörderischen Aktion war ihm vorab „kein Wort“ mitgeteilt worden. Schon ab dem zweiten Tag fühlte er sich schlecht, „aber wir hatten keine Zeit, darüber nachzudenken“. Nach den drei Stunden im Tunnel wartete auch über Tage die Arbeit. Auf Lastwagen wurde neues Graphit angeliefert, das abgeladen werden mußte. Abends, berichtet Pilyugin, sei seine Haut auffällig trocken gewesen und habe sich regelrecht abgepellt. „Außerdem hatte ich Haarausfall.“

Valery Pilyugin hat den Einsatz in Tschernobyl überlebt. Als er im Juni 1986 nach Gorlovka zurückkehrte, fuhr er noch sechs Monate unter Tage. Wegen mehrerer Bewußtseinsverluste verlor er seine Zulassung als Bergmann. Nach einem zweijährigen Krankenhausaufenthalt wurde Pilyugin zum Vollinvaliden zweiter Ordnung erklärt (es gibt drei Klassifikationen) und mit monatlich 41 Rubel beschieden. Diese Invalidenrente ist jetzt auf 80 Rubel angehoben worden, das entspricht etwa zehn Prozent seines Bergmannslohnes. 120 Rubel beträgt das Maximum für Vollinvaliden.

Die Frage nach seinem Gesundheitszustand pflegt Pilyugin heute mit einer Zahl zu beantworten: Er habe 18 Krankheiten. Sie reichen von Kopfschmerzen und ständiger Müdigkeit bis zu Lähmungserscheinungen in den Beinen, Gelenk- und Muskelschmerzen, Sehstörungen und Kreislaufproblemen. Vor zwei Jahren erlitt Pilyugin einen Herzinfarkt. Auch seine Tochter, die nach der Katastrophe zur Welt kam, ist schwer krank: Schilddrüsenvergrößerung, starke Blutdruckschwankungen. Seit dem Alter von zwei Monaten hatte sie immer wieder Bewußtseinsverluste; jetzt ist sie zwei Jahre alt.

Valery Pilyugin ist einer von 660.000 offiziell registrierten Tschernobyl-„Liquidatoren“, das sind Feuerwehrleute, Soldaten, Arbeiter, Wissenschaftler, die mit ihrem Einsatz die Katastrophe „liquidiert“ haben und ihren Kopf dafür hinhielten, daß Europa bewohnbar blieb. Viele Liquidatoren kämpfen noch um ihre staatliche Anerkennung als Strahlenopfer. Die tatsächliche Zahl der Katastrophenhelfer wird von den inzwischen gegründeten Selbsthilfegruppen auf mindestens eine Million geschätzt. Die meisten von ihnen sind krank, Tausende sind gestorben.

Während heute in vielen Berichten die Tschernobyl-Katastrophe in einem Atemzug mit jenen 31 Toten genannt wird, die in den ersten Wochen nach der Reaktorexplosion gestorben sind, spricht die „Allunionsvereinigung der Liquidatoren“ von 7.000 Opfern allein unter den Katastrophenhelfern, „aber wir arbeiten noch an unserer Liste“ (der Opfer). Die Vereinigung ist als Selbsthilfegruppe im vergangenen Jahr gegründet worden. Sie kämpft für die gesundheitliche Versorgung der Liquidatoren, für ihre Entschädigung und gesellschaftliche Anerkennung.

Alexander Velikin ist 37 Jahre alt und ebenfalls Liquidator. Doch seine Geschichte ist eine andere. Der Chemieingenieur ist im September 1986 freiwillig nach Tschernobyl gegangen, wo er an Aufräumarbeiten beteiligt war und stark kontaminierte Gebiete erkennen und entseuchen sollte. Im Gegensatz zu den meisten Helfern war sich Velikin von Beginn an über die Risiken seiner Arbeit bewußt: „Das ist mein Fach, das ist mein Spezialgebiet.“

Kein einheitlicher Grad an Radioaktivität

Zu seinen Aufgaben gehörte es auch, die anderen Helfer über die Gefahren aufzuklären und sie vor besonders verstrahlten Zonen zu warnen. Eines der größten Probleme dabei: „Es ist charakteristisch für Tschernobyl, daß es dort keinen einheitlichen Grad der Radioaktivität gab. Ich kenne Fälle, wo Leute nur zwei Schritte nebeneinander standen. Dabei bekam der eine drei rem ab, der andere einhundertsechzig.“

Velikin war einer der wenigen, die mit einem Dosimeter ausgerüstet waren; er hatte sein eigenes Gerät gleich mitgebracht. Alle übrigen Helfer besaßen keine Meßgeräte. Die Risiken waren deshalb auch nicht kalkulierbar, weil niemand wußte, wer wo welche Strahlendosen abbekam.

Erst im Juni, so Velikin, seien die ersten Dosimeter eingetroffen. Doch auch danach kam es bei der Ermittlung der individuellen Verstrahlung immer wieder zu „Fehlern“. Nach seinen eigenen Berechnungen war zum Beispiel Velikin in den drei Monaten in Tschernobyl einer Gesamtdosis von etwa 200 rem ausgesetzt. In seiner Akte wird die erhaltene Strahlendosis aber mit nur 32 rem angegeben.

An die Säuberung der evakuierten Stadt Pripjat erinnert sich Velikin besonders genau. Er hatte die Anweisung erhalten, mit einem Trupp von Helfern das zurückgelassene Hab und Gut zusammenzupacken und in eine Grube zu fahren. Velikin: „Es waren ganz normale Wohnungen mit Bildern an den Wänden, und das Spielzeug der Kinder lag noch auf dem Boden. Stellen Sie sich doch einmal diese leeren Kinderbetten vor.“ Vergeblich habe er seinen Chef gebeten, für eine andere Arbeit eingeteilt zu werden: „Ich konnte einfach nicht mehr in diese leeren Häuser hineingehen.“

„Wenn wir alle Krankheiten aufzählen, wird Ihre Kassette nicht ausreichen“, beschreibt der Ingenieur seinen eigenen Gesundheitszustand und den seiner Kollegen. Velikin kritisiert, daß in Tschernobyl in den ersten Wochen besonders viele 18- und 19jährige Soldaten eingesetzt waren. Und selbst heute würden diese „ganz jungen Leute“ noch immer zu Arbeiten in der hochverstrahlten Zone abkommandiert. Velikin bestätigte eine Anmerkung aus dem Publikum, wonach heute noch 7.000 Personen regelmäßig in der hochverstrahlten Zone beschäftigt sind, die meisten davon in den noch immer laufenden Nachbarblöcken des AKWs Tschernobyl.

Aber auch am Unglücksreaktor selbst wird nach wie vor gearbeitet. Derzeit versuchen Wissenschaftler, den Kernbrennstoff aus dem Herzen des Reaktors herauszuholen, um das Gefahrenpotential für den Ernstfall zu reduzieren. Der Ernstfall wäre der Einsturz des Sarkophags. Manfred Kriener

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