Entschlackung

Land Art von Richard Long im Frankfurter Städel  ■ Von Thomas Schmidt

Auch Land Art- Künstler müssen essen.“ Kollege Ad Reinhardt hat recht. Aber das ist sicher nicht der Grund, weshalb Klaus Gallwitz, Direktor des Frankfurter „Städel“, mit der Ausstellung von Richard Long einen alten Wunsch in Erfüllung gehen sieht.

Der Engländer Richard Long, heute der bedeutendste Vertreter der Land Art, beschäftigt sich seit 1967 mit Elementarformen wie Kreis und Spirale und spärlichen Landschaftseingriffen. Zu Beginn seines künstlerischen Schaffens waren es vor allem Hölzer und Stöcke aus dem Fluß Avon in seiner Heimat, die von dem Frankfurter Galeristen Eduard Paul Maenz 1967 nach Longs Anweisungen parallel zum Grundriß eines Ausstellungsraumes angeordnet wurden.

Für Richard Long ist das Gehen, das Wandern, das er als Skulptur begreift, zentraler Bestandteil und Quelle seiner Arbeit. Er sagt: „Eine Menge Ideen kommen beim Wandern oder wenn man Rast macht. Sie kommen durch die Landschaft in deinen Kopf.“ Bei seinen Wanderungen durch ausgedehnte, zum Teil unberührte Landschaften hinterläßt er lediglich eine kaum wahrzunehmende, gemessen an den umgebenden Größenordnungen sehr kleine Spur seiner Präsenz durch Steine, Stöcke, Seetang, Schlamm oder Schnee. Longs behutsame Annäherung an die Landschaft ist das genaue Gegenteil zu den spektakulären, teilweise mit Planierraupen vorgenommenen Eingriffen in die Natur, die die amerikanischen „Earth Worker“, allen voran Robert Smithson, in den siebziger Jahren vornahmen.

Richard Long interessieren die einfachen und grundlegenden Strukturen, die er aus der Natur symbolisch herauslöst. Konstant arbeitet er mit reinen Natursubstanzen und formt sie zu geometrischen Grundfiguren: In Lappland zieht er auf einer Bergkuppe einen Schneekreis. Auf einer Hochebene in Bolivien legt er eine Steinlinie. An einem Strand in Cornwall formt er bei Ebbe eine Spirale aus Seetang.

In dem vor wenigen Monaten eröffneten Anbau des Frankfurter Städel zeigt Richard Long jetzt seine neuesten Arbeiten: Drei Steinkreise, die aus Hunderten unbehauener Brocken bestehen und sich in dem gut ausgeleuchteten Raum mit seinem weichen Licht jeder voreiligen Erschließung widersetzen.

Die Bodenskulpturen, die er Mountain Circle, Planet Circle und River Circle nennt, sind schon durch ihre Kreisform und durch das verwendete Material (lothringischer Kreidekalkstein) eine hermetische künstlerische Einheit. Einzig und allein die Lage der Steine in den drei verschiedenen Radien, ihr Rhythmus und ihre unterschiedliche Dichte und die Variationen der Mittelpunkte machen ihre Spannung aus. Der kleinste der Kreise, Mountain Circle, ist ganz kompakt mit Steinbrocken aufgefüllt, die sich zum Zentrum hin zu einer gedachten Bergspitze erheben. Der größte, in der Mitte liegende Kreis, Planet Circle, hat im Innern eine unregelmäßige, frei, ausgefranste Fläche, die hart mit dem exakt gelegten Außenrand kontrastiert. Man denkt unwillkürlich an einen Planeten mit seinem instabilen Zentrum und der gefestigten Außenhülle. River Circle ist die ausgeglichenste, ruhigste Bodenskulptur. Während die beiden anderen Steinkreise zum Mittelpunkt hin eine Dynamik entwickeln, weckt dieser mit seinem harmonischen Verhältnis von umschlossenem inneren Freiraum und dichtgepacktem äußeren Steinkreis die Erinnerung an den ewigen Kreislauf des Wassers.

Das einzigartige Fluidum, das von Longs Skulpturen ausgeht, wird noch unterstützt durch die weiche pastellige, ins Gelbe schimmernde Farbe des lothringischen Steins. Es herrscht eine fast sakrale Ruhe. MuseumsbesucherInnen versinken in Kontemplation, sie nehmen sich Zeit, umwandern die Bodenskulpturen und nehmen Veränderungen des Rhythmus' und der Dichte der Steine wahr, die sich aus den verschiedenen Blickwinkeln ergeben.

Zwei diametral entgegengesetzte Erfahrungswelten stoßen im Museum aufeinander: die des Kunstraums und die des Naturraums. Der Widerstreit zwischen herausgelöster Natur und symmetrischem Innenraum führt zu einer Art gedanklicher „Entschlackung“. Jede Form von Rationalität, jeder rechte Winkel der Mauern, Fenster, Bodenplatten — und sei er auch museal noch so verschönert — scheint auf einmal mit einem leisen Vorwurf behaftet. Richard Long legt durch seine symbolische Kunst verschüttete Formen der Wahrnehmung wieder frei. Seine archetypischen Steinskulpturen drücken Erfahrungen aus, die man nicht in Begriffe fassen, sondern nur durch Bilder erfahren kann. Die kognitiven Funktionen arbeiten ja nicht mit einem einfachen Gedächtnis-Speicher, sondern mit Hilfe symbolischer Formen. Andernfalls könnten wir uns selber gar nicht wiedererkennen: Wie wir uns im Moment sehen, haben wir uns vorher ja noch nie gesehen und werden es auch nie wieder tun.

Richard Longs Kunst ist ein stetiger, beharrlicher und leiser Versuch eines anderen Verhältnisses zur Natur, das nicht nur durch die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften und ihrer instrumentellen Vernunft geprägt ist, deren Begriffe und Techniken die Welt entsinnlichen und sie uniformieren. Durch dieses Infragestellen der cartesischen Weltsicht wird Longs Kunst zu einer Art „Gegengift“, das durch die verschiedenen künstlerischen Uraufführungen mögliche subjektive Sichtweisen der Welt erkennen läßt.

Seine Vorliebe für das zweithärteste natürliche Material auf der Erde ist nicht nur ein bloßer „Kunstgriff“. Das Steinerne bei Richard Long rührt an einem Tabu unserer Gesellschaft. Schon Leonardo da Vinci verglich den Erdball mit dem menschlichen Körper. Das Steinerne ist das Skelett des Erdballs, auf dem sich das Fleisch, die Erde, aufbaut. Beim Menschen tritt das Härteste in ihm, die Knochen, erst nach seinem Tod hervor. Der Stein als Metapher für den verdrängten Widerspruch zwischen der Vergänglichkeit jeden organischen Materials und dem Dogma unbegrenzten Wachstums. Aufgelöst wird der Widerspruch durch Richard Longs Arbeiten natürlich nicht, aber sie schärfen den Blick für verdrängte Wahrheiten.

Seine Grundhaltung ist nicht die eines romantischen Wanderers, und seine Formensprache hat nichts mit Naturmystizismus oder Schamanentum zu tun. Dazu hat sie zu starke formale Vorgaben und ist mit ihrem Denken am Puls der Zeit. Er schafft im Außenraum keine dauerhaften Kunstwerke. Longs Spuren in der Natur werden teilweise nach dem Fotografieren, das als reine, neutrale, unpersönliche Dokumentation gilt, wieder abgebaut.

Mit den Veränderungen der Präsentation ändern sich auch in der Land Art die „Verteilungsformen“ der Kunstwerke. Sie werden nicht mehr nur zum Ort des Geschehens transportiert, sondern Aktionen, Wanderungen, Prozesse hält der Künstler mit den verschiedensten Medien vor Ort fest, um sie später im Museum auf neue Art zu vermitteln. Aus diesem Grund gibt es noch im Vorraum, neben zwei großformatigen Schlammkreisen, eine Mitteilung von Richard Long zu sehen, die das konzeptuelle Überbleibsel einer 622 Meilen langen Wanderung durch Spanien ist: „In the middle of the road / Halfway stone / In the middle of the walk.“

Die Ausstellung Richard Longs ist noch bis zum 12. Mai im Frankfurter Städel, Holbeinstraße, zu sehen.