HUBERTSELBY

DIELESUNG  ■  BROOKLYN CHURCHTIME

Ein amerikanischer Literat in der Passionskirche am Marheinekeplatz, engagiert von den Loft-Konzertveranstaltern, da braut sich was zusammen am trüben Berliner Maihimmel: Hubert Selby, spät gefeierter Autor von »Last Exit to Brooklyn«, nimmt heute abend Platz am Altar. Als verkannter Moralprediger? Alle sechs kurzen Prosastücke seines 1964 erschienen Kultbuches tragen Motti aus dem Alten Testament, so z.B. das vom Aufstieg und Untergang der Prostituierten Tralala, die ihren Verstand und ihre Brüste ausschließlich auf die Dollars richtet und letztendlich von 50 Kerlen auf einem Autofriedhof bis zum tödlichen Ende vergewaltigt wird. Für sie gilt das Hohelied Salomons 3, 2-3: Ich will aufstehen und in der Stadt umhergehen auf den Gassen und Straßen und suchen, den meine Seele liebet; ich suchte, aber ich fand nicht.

Die Bibelweisheiten bringen nur auf den Punkt, was Selbys drastische Geschichten erzählen. Seine Jugend in der Hölle Brooklyn überlebt zu haben, trotz Heroin, Tuberkulose und Alkohol, ist dem eingefallenen Häufchen Mensch selbst ein Rätsel. Schreiben entdeckte er als Selbsttherapie, 1970 schloß er dann einen »Friedensvertrag« mit sich selbst, den er unterschrieb, um die Opferhaltung loszuwerden, die ihn als einen von der ganzen Welt Angeschissenen ins Elend laufen ließ.

Mit seinen Charakteren, den Transvestiten, Prostituierten, Straßenschlägern und Junkies entwickelte Selby eine Sprache, die Syntax und typographische Regeln verhöhnt. Gedanken, Rede und Eindrücke fließen ineinander, verbale Obszönitäten werden zu lauten Schreien, fehlende Satzzeichen schaffen einen atemlosen Fluß, der beim Lesen keine ruhige Minute läßt. An den Geschichten von »Last Exit« feilte Selby sechs Jahre, bis er die profane Ausdrucksweise und rege Körpersprache seiner Jugendfreunde glaubwürdig in literarische Sprache umgesetzt sah. In seinen Romanen »The Room«, »The Demon« und »Requiem for a Dream«, die in den 70ern entstanden, setzte er seinen knappen, wütenden Stil fort. Erst in der Kurzgeschichtensammlung »Song of the Silent Snow« schlug er leisere und nachdenklichere Töne an. Dieses letzte Buch, das in den USA zur gleichen Zeit wie die, von Bernd Eichinger produzierte, Verfilmung von »Last Exit« auf den Markt kam, ist gerade in der deutschen Übersetzung erschienen.

Das amerikanische und europäische Publikum hat Hubert Selby, nicht zuletzt aufgrund der umstrittenen Verfilmung, wiederentdeckt. Die Neuauflage seiner lange vergriffenen Geschichten sind für Selby der beste Beweis für die Erlösung durch inneren Frieden, an die er fest glaubt. Und doch bleibt Selby etwas, das man sich unbedingt merken sollte: »I'm the best-kept secret in America.« Barbara Schäfer

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