Der gute Mensch von Steckel

■ »Timon von Athen« vom Bochumer Schauspielhaus beim Theatertreffen

Timon von Athen ist eine der ärmsten Figuren Shakespeares. Er ist unermeßlich reich, aber sein Besitz fällt ihm zur Last. Am liebsten würde er ihn restlos verschenken. Timon lädt seine Freunde zu sich ein, um ihnen die Wünsche von den Augen abzulesen. Er merkt nicht, daß seine Lust zu schenken die anderen gierig macht. Jemand, der seine Reichtümer nur verteilt und kein bißchen hortet, ist eines Tages bankrott und muß borgen gehen. Also bittet Timon die von ihm reich Beschenkten um Hilfe. Aber seine Freunde sind keine mehr, Timons Großzügigkeit hat sie verdorben. Sie erfinden tausend Ausreden, und für den Athener bricht die Welt zusammen. Seine reine Menschenliebe verkehrt sich in ihr Gegenteil. Er wird zum Einsiedler, verflucht die Menschheit und stirbt aus Enttäuschung. William Shakespeares Tragödie Timon of Athens wird nur selten gespielt. Es fällt nicht ganz leicht, sich für seine Hauptfigur zu interessieren. Timon spottet der schlichten Wahrheit, daß es keinen Charakterzug gibt, der nicht von seinem Gegenteil eingefärbt wäre. Der Athener ist in der ersten Hälfte des Dramas zu gut und in der zweiten zu finster. Er wird aus seinem Schaden kaum klüger, sondern nur zynisch. Die Shakespeare-Forscher sind sich einig, daß King Lear das unvergleichlich stärkere Stück ist und daß der strikt symmetrische Bau des Timon das Drama nicht verbessert. Nun ist es im Theaterwesen aber regelmäßig so, daß, wenn über die Schwäche eines Dramas alle einer Meinung sind, jemand sich findet, der das Gegenteil behauptet. Für Timon von Athen hat der Bochumer Intendant Frank Patrick Steckel neben der Regie auch diesen Part übernommen und das Stück selbst neu übersetzt. Er ist der festen Überzeugung, daß im Timon eine Utopie verborgen liegt: der alte Menschheitstraum vom absoluten Wert der (Nächsten- )Liebe. Steckel verbesserte Shakespeare und machte aus dem tadellosen Menschen eine tragische Figur, einen Kämpfer gegen den Stellenwert des Materiellen in demokratischen Gesellschaften.

Der Regisseur ist nicht naiv. Er wußte wohl, daß er die Schauspieler ans Messer liefern würde, wenn sie den Text schutzlos zu spielen hätten. Er wußte, daß die Parabel einer radikalen Verfremdung bedurfte. Also engagierte er den Maler und Bühnenbildner Dieter Hacker und ließ ihn für jede der über fünfzig Figuren des Stücks eine andere Maske und ein anderes Kostüm entwerfen.

Dieter Hackers Masken sind wie seine Malereien: spröde, grobschlächtig, in bösen Farben gemalt. Auf den Gesichtern kämpfen schwarze Schatten gegen helles Rosa, und grobe Pinselstriche entstellen die Münder und Augen. Eine böse, falsche Gesellschaft von Schmeichlern springt der Betrachterin entgegen.

Timon von Athen trägt einen monströsen Riesenschädel, aschgrau und ausgekerbt wie eine Hausruine. An seinen Anblick muß man sich eine Weile gewöhnen. Aber dann weicht langsam das Erschrecken dem Mitleid mit der Figur. Der furchtbar traurige Kopf, die langsamen Bewegungen und die Stimme des Schauspielers Peter Roggisch werden zur Verkörperung des enttäuschten Menschen.

Steckels Inszenierung verlangt vom Publikum äußerste Konzentration. Sie bewegt sich nur stockend voran, und die grell beleuchtete, völlig leere Bühne ist eine Strapaze für die Augen. Manchmal hat man das Gefühl, die Kunst könnte sich jeden Moment als Künstlichkeit entpuppen und das Theater ins Leere fallen. Aber es geschieht nicht. Das Zeitlupentempo der Bewegungen, die grellen Farben und häßlich-schönen Fratzen werden immer wieder aufs neue rätselhaft. Diese Masken sind von so suggestiver Kraft, daß man sie mit der Zeit nicht mehr als Masken wahrnimmt. Irgendwann dienen sie nicht mehr der Maskierung. Dann sind die roten Vogelgesichter Senatorenköpfe, und der schwarzbemalte Pappkarton ist das Antlitz eines Zynikers und Philosophen. Anders kann es nie gewesen sein. Ob dieser Timon das Stück neu entdeckt, wird im Laufe der drei Stunden zur Nebensache. Vielleicht eröffnet das hermetische, spröde Gesamtkunstwerk, das Steckel, Dieter Hacker und die Schauspieler geschaffen haben, dem Theater ganz neue Möglichkeiten? Die Symbiose aus Malerei, Skulptur und Sprache. Doja Hacker