Ort der Einkehr und Besinnung

■ 20. Internationale Studententage der Hochschule für Film und Fernsehen »Konrad Wolf«

Ende April ließen in Babelsberg, Potsdam und Berlin StudentInnen der Hochschule für Film und Fernsehen »Konrad Wolf« ihre Arbeiten öffentlich über die Leinwand gleiten. Doch weniger über die Filme als vielmehr über das Wohl und Weh dieser einzigen ostdeutschen Ausbildungsstätte für Kino- und TV-ArbeiterInnen berichtetUwe Baumgartner

Fernsehen meint Öffentlichkeit und ist doch zunächst nicht mehr als gigantische Luxstärke. Das sonst im gemütlichen Schummer dahindösende Foyer des Babylon-Mitte gleißt für die Kameras, die den Tisch umstellt haben, an dem der Moderator seine Gäste zu Antworten animiert. Doch wer sie sind, bleibt im dunkeln — zumindest für die KinogängerInnen. Die hören weder Frage noch Antwort, bereiten sich nach anfänglicher Neugier auf die lange Nacht der StudentInnenfilme vor, bunkern Bier und Keksrollen. Dabei würde es sicherlich auch sie interessieren, was denn der Rektor der Babelsberger Filmhochschule den ZuschauerInnen des Offenen Kanals mitzuteilen hat. Denn daß sich das Gespräch nicht nur um den offensichtlichen Anlaß, die alljährlichen Internationalen Studententage, dreht, steht zu vermuten. Schließlich findet sich die einstmals einzige und damit a priori einzigartige Ausbildungsstätte heute als eine unter anderen. Will sie bestehenbleiben, muß sie sich legitimieren, ihre Unersetzbarkeit beweisen. Die Filmhochschule München und die Berliner Film- und Fernsehakademie (DFFB) sind die neuen Orientierungsgrößen, und die entscheidende Frage ist jetzt, ob die Hochschule genug Profil besitzt, um auch im neuen Deutschland als unverzichtbar zu gelten. Ist sie willkommener Neuzugang? Oder abwicklungsreife Altlast?

Während im Kino die ersten Filme laufen, frage ich bei HochschullehrerInnen und StudentInnen nach, wie sich die Situation aus ihrer Sicht darstellt. Rektor Panse und Dozent Rabenalt geben sich optimistisch: »Wir werden gebraucht.« Stärke der Hochschule sei der realistische Film, sei »Kunst, die sich bewußt in gesellschaftliche Prozesse einschaltet«. In alten Zeiten seien die hier entstandenen Filme immer einen Zahn kritischer und gewagter als die der DEFA oder des Fernsehens — dort saß die schärfste Waffe des Zensors, die Schere, viel lockerer. Das Publikum suchte diese Filme. Doch die Gründe dafür liegen fast ausschließlich an den Inhalten, die künstlerische Umsetzung stand immer erst an zweiter Stelle. Der Bonus »thematische Frechheit« schwand, jetzt rücken Fragen des Handwerks, der Ausbildung in den Vordergrund. Sicher, gerade die Münchener seien in vielem perfekter. Kein Wunder allerdings, würden viele der StudentInnen dort doch mit Kameraprofis arbeiten, von der Technik, die sie zur Verfügung hätten, ganz zu schweigen. Dagegen würde in Babelsberg seit langem in ausschließlich studentischen Stäben produziert. Anders als in München, wo sich jede/r in allem probiere, gelte in Babelsberg seit langem der Grundsatz »Spezialisierung«. Wer sich für Kamera, Regie oder Produktion entscheide, studiere hauptsächlich dieses Fach. Die Arbeit an den Filmen führt die Gewerke dann wieder zusammen. Dadurch sei besonders die Ausbildung individueller Handschriften gefördert worden. Doch dieses Modell steht jetzt auf tönernen Füßen. Denn seine wichtigste Grundvoraussetzung hieß: gesicherte Finanzierung. Und die schwand mit dem alten Staat. Andreas Dresen und Jens Becker, die beide zehn Semester Regiestudium hinter sich haben, konnten jedes Jahr mindestens einen Film in Angriff nehmen. Ihre Budgets dafür beliefen sich bis zu Summen von 250.000 Mark. Die mußten sie sich nicht besorgen, die waren einfach da. Ihre Leidenschaft sei der Spielfilm, doch ob sie in absehbarer Zeit ein solches Projekt realisieren können, erscheint angesichts der Umstände fraglich. Fördergremien beeindrucken, mögliche Geldgeber überzeugen, vermarktungsgerechte Drehbücher schreiben: der »normale« Gang der Dinge löst bei ihnen ein geradezu physisches Unbehagen aus. Andererseits wissen sie natürlich, welchen Preis die verlorene Nestwärme gefordert hätte. »Vor der Wende wäre ich festangestellter Regisseur beim DDR-Fernsehen geworden, der bis zu seiner Berentung Spielfilme macht. Ich wäre immer zensiert worden. Aber bestimmte Dinge wären immer gegangen. Und ich hätte Arbeit gehabt.« Glücklich und zufrieden wäre Jens Becker nicht gewesen — aber er hätte sich auf die Umstände eingestellt. »Früher war ich feige, hab' mich viel zuwenig gewehrt. Aber als Ostdeutscher bin ich so oft gedemütigt worden, damals wie heute: Hab' keine Lust mehr, die Klappe zu halten. Und das lass' ich auch jetzt in meinen Filmen raus. In der Hoffnung, einigen Mut machen zu können, sich auch zu wehren.« Wenn er von seiner Zeit an der Hochschule spricht, wird er ein bißchen sentimental. Hier hat er nicht nur sein Handwerk gelernt, hier lernte er auch viel über sich. In den freien Markt entlassen, nimmt er vor allem eines von dort mit: Berufsethos. Mache keinen Film, mit dem du nur Geld verdienen willst. Kunst und Kommerz vertragen sich schlecht miteinander. Im gerade immatrikulierten Studiengang sieht Becker erste Anzeichen für einen von ihm gefürchteten Mentalitätswechsel. Da gehe es schon viel mehr um Kohle. Ihn als Idealisten erschrecke das.

Becker und Drews, so lautet die Antwort des Rektors, als ich ihn nach den seiner Meinung nach talentiertesten Absolventen dieses Jahrgangs frage. In der Tat scheinen beide fast ein wenig zu mustergültig das zu verkörpern, was die im Gespräch benannten Stärken der Ausbildung ausmacht. Beide sind auf »realistischen Film« eingeschworen, beide wollen hauptsächlich Spielfilme drehen, Kunst als Lebenshilfe mit Unterhaltungswert. »Wer Filme macht, muß was zu sagen haben«, meint Becker. »Ich hab' das Gefühl, daß die jungen ostdeutschen Filmemacher im Moment mehr mitzuteilen haben als die Kollegen im Westen.« Das Drehbuch für seinen Debütfilm, an dem er in den letzten zwei Monaten schrieb, liest sich wie ein Kommentar zu dieser These. Die Story: junges Paar in Dresden, große Liebe. Doch beide werden arbeitslos, kommen mit der Situation nicht zurecht. Liebe scheitert. Wenn diese Grundidee mit »genügend Unterhaltungswert« in Szene gesetzt wird, dann — so hofft Becker— kämen auch die Leute ins Kino. Jedenfalls im Osten.

Eine Provinztragödie? In gewisser Weise ja. Doch habe für ihn »Provinz« nicht nur den üblen Beigeschmack von Dumpfheit. Auch Bergman sei provinziell. Oder — auf andere Weise— Woody Allen. Gerade psychologisch tieflotende Geschichten könnten in Babelsberg entstehen, einem Ort, wo »nach meinem Empfinden immer Herbst ist«. Wer in der DDR aufwuchs, könne nicht über Nacht ein Kosmopolit werden. »Es war eben dies Provinzielle, was uns alle irgendwie prägt, was immer noch in uns ist.« Eine Wurzel für ostdeutsche Identität? Vielleicht. Wenn Becker hofft, mit seinem Spielfilmprojekt Zuschauer anzulocken, setzt er nicht unwesentlich auf diese gemeinsame Provinzerfahrung. Es wäre ein Mißverständnis, anzunehmen, daß Becker somit auch Fürsprecher des sattsam bekannten und allseits gehaßten »DEFA-Miefs« wäre. Den hat er in seinen Filmen längst überwunden, mußte aber — wie so viele andere vor ihm — durch diese Schule gehen. »Im Studium waren wir, zumindest anfangs, von ganzen Komplexen des Weltfilms abgeschnitten.«

Der auf dem Lande aufgewachsene Andreas Dresen fühlte sich in der Abgeschiedenheit des Filmdorfs immer sehr wohl. Ort der Einkehr, der Besinnung — die alten Ufa-Villen am Kanal, mit Wald und Park ringsum, erwecken den Eindruck eines Sanatoriums am Rande der Stadt. Hier hat Dresen seine Neigung zum genauen Beobachten, zum tiefen Eindringen in Charaktere ungestört kultivieren können. Für seine Filme interessieren ihn »Geschichten von Leuten, die sich unter konkreten Umständen bewegen müssen, damit ihre Probleme haben« — typisch Babelsberger Schule, bis in die Formulierung hinein. Doch die Tage in der Idylle sind auch für ihn gezählt. Wie Becker weiß auch er nicht genau, was ihn dann erwartet, ob er, wie erhofft, an Spielfilmen wird arbeiten können. Think positive: Dann wird er eben mit etwas anderem Geld verdienen und nebenbei »mit dem Enthusiasmus von Amateurfilmern« an seinen Projekten arbeiten.

»Das Produkt der Hochschule sind die Studenten — nicht unbedingt die Filme«, meint Dresen. Wenn das stimmt, so muß sich in Babelsberg wirklich eine besondere Spezies zusammengefunden haben. Dozent Rabenalt hat beobachtet, daß sich die Bewerber aus den alten Ländern speziell ob der Traditionen hier für eine Ausbildung interessieren. »Es ist, als hätten sie auf die Öffnung gewartet, um bei uns studieren zu können.« Das »Prinzip der realistischen Kunst« hat, wie es scheint, nach wie vor seine Fürsprecher und Anhänger. Befreit von der ideologischen Indoktrination des »sozialistischen Realismus«, befreit von der Reduktion auf das langweilige Geschichte-wird-von-A-nach- B-erzählt, gewann es wieder an Wertigkeit. Und doch — so richtig überzeugen mochten die Filme aus Babelsberg das Publikum während der Studententage nicht. Stammgast Martin, seit fünf Jahren Dauergast dieser Woche, bringt es auf den Nenner: »Intellektualität im Film wird ausgepfiffen.« Für ihn entstehen in Babelsberg »schwierige« Filme, die mehr über Inhalte transportieren als über die Bilder.

Doch wie auch immer die Bewertung der studentischen Bemühungen aussehen mag — sicher ist, daß sie sich von denen der Münchener und Berliner stark unterscheiden. Der zukünftigen deutschen Kinolandschaft kann der Erhalt dieser Ausbildungsstätte eigentlich nur zuträglich sein. Doch dazu bedarf es nicht nur eines Beschlusses der Landesregierung, sondern auch eines Klimas der gegenseitigen Akzeptanz. Während im letzten Jahr noch rund 15 StudentInnen der DFFB als Gäste nach Babelsberg fanden, waren es nun nur noch zwei oder drei. Martin kommentiert: »So wie überall. Erst rennen sie aufeinander zu, jetzt kommt die Schere erneut.« Die gegenseitige Fremdheit hat sich offensichtlich noch verstärkt; sie allein auf die unterschiedlichen Ästhetiken der Hochschulen zurückzuführen, würde zu kurz greifen. Denn auch in anderen Bereichen gibt es die Tendenz zu einer neuen Abschottung von Ostlern und Westlern. Wir lassen euch in Ruhe und ihr uns. Ihr versteht uns nicht, wir verstehen euch nicht. Also, was soll's.

Im Filmkunsthaus Babylon kamen sie dann doch zusammen, die Cineasten dieser Stadt. Filme sehen verpflichtet schließlich zu nichts. Und von den Interna der Babelsberger bekam ja wegen fehlender Verstärkung der Stimmen der Talkshow-Gäste keiner der Kinogänger etwas mit. Wie viele der Westberliner Kabelbürger sich die einstündige Live-Übertragung ansahen — who knows? Am interessantesten dürfte der Abend dann wohl für Jens Becker gewesen sein — wenn auch aus einem anderen Grund. Denn er führte hierbei die Regie, »aus sportlichem Ehrgeiz«. Bei einem finanzkräftigen Sender hätte er für diesen Job so um die 15.000 kassieren können — mehr als für einen Spielfilm. Doch wenn er den Moderator als Produzenten seines Debütfilms gewinnen kann, dann stimmt die Rechnung trotzdem. Der Idealist nähert sich auf Umwegen seinem Ziel.