GASTKOMMENTAR
: Ein Fall von Vatermord

■ Im Wilden Osten marodiert ein gewendeter linksautoritärer Charakter

Auch wer ungern dramatisiert, ist über das Ausmaß rechtsextremer Gewalt in Ostdeutschland alarmiert. Wann sich dieser rechte Aufmarsch legt, hängt von der Bewältigung der jüngsten deutschen Vergangenheit ab. Das letzte Aufbäumen der untergehenden SED bestand im Januar 1990 in einer antifaschistischen Kampfdemonstration am Treptower Ehrenmal. „Dieses Land wurde aus dem Antifaschismus geboren! Laßt es nicht zur Heimstatt der Neofaschisten werden!“, lautete der vergebliche Tagesbefehl zur Reparatur des längst perforierten Schutzwalls gegen die rechte Gefahr aus dem Westen.

Dabei ist dieser „Neofaschismus“ hausgemacht, Endstufe einer in den Histomat-Kursen nicht vorkommenden Geschichtsdynamik: auf Realsozialismus folgte Marktwirtschaft plus Neofaschismus... Denn das ganze rechte Bestiarium war längst unterirdisch und führerlos präsent, ist Ausgeburt einer Antifa-Maschinerie, die in Buchenwald und anderswo in (nicht immer) bester Absicht nicht allein Überdruß und Gleichgültigkeit, sondern eben auch Revanchisten und Revisionisten produzierte. Die Leute haben erfahren, daß sie sich von einer wahren Mafia haben regieren und ausplündern lassen; jetzt bilden sie selber Banden. Ein Fall von Vatermord also. Die verdrehte Kontinuität des linksautoritären Charakters, der Hitlers Geburtstag feiert, wenn Honi weit weg ist, wird jetzt sichtbar. Wer Juden schilt, Neger verprügelt, Punker jagt, Rote lyncht, agiert in jenem Vakuum, das die spätstalinistische Ordnungsmacht hinterlassen hat und bundesdeutsche Indifferenz nicht füllen kann. Die rechten Gangs sind die displaced persons der 90er: Waffenstillstandsopfer nach dem Kalten Krieg. Daß sie ihre Gewalt gegen Fremde richten, ist nur konsequent — sie wollten ungestört bleiben von der Welt. Daß darunter vor allem Polen leiden müssen, ist weniger Ausdruck eines großdeutschen Plans als unbewußte Rache an jenen, die den osteuropäischen Freisetzungseffekt auslösten. Denn für die Schläger und Schreihälse bedeutet das Ende der DDR keine Befreiung, sondern Zusammenbruch; in der allgemeinen Auflösung rufen sie nach dem endlich wieder starken Staat, der — wenigstens das — in der ostdeutschen Kleinbürgermonarchie garantiert war.

Was sonst gegen Hooligans und Neonazis aufzubieten sei? Eine überlegene Polizeitaktik, wenn die marode Lage der Ordnungskräfte im Wilden Osten nicht so bekannt wäre. Und Gelassenheit, wenn wir dazu fähig wären. Ansonsten: Ratlosigkeit, ABM- und Fan-Projekte — und die Hoffnung, daß keiner auf die Idee kommt, Selbstverteidigungskommandos gegen die Pseudo-SA aufzubieten. Claus Leggewie

Claus Leggewie ist Professor für Politikwissenschaften in Gießen und schrieb Die Republikaner, 1989, Rotbuch Verlag.